Über den Sommer 1938 ließ der öffentlich wahrnehmbare Druck, dem die jüdische Bevölkerung seit dem „Anschluss“ im März ausgesetzt gewesen war, etwas nach. Bereits im Oktober 1938 mehrten sich die Schikanen seitens der NSDAP und der Gestapo jedoch wieder. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 eskalierte schließlich im gesamten Deutschen Reich die Gewalt. Als Vorwand diente dem NS-Regime das Attentat eines polnischen Juden, Herschel Grynspan, auf den deutschen Gesandten in Paris, Ernst Eduard vom Rath.
An jedem 9. November, dem Jahrestag des gescheiterten Hitler-Putsches 1923, inszenierte die NSDAP im gesamten Reichsgebiet pompöse Veranstaltungen, um die gefallenen „Blutzeugen“ der NS-Bewegung zu würdigen. Im vierten Bezirk fand die zentrale Feier auf dem Karlsplatz statt,1 zu der sich laut der Wiener Ausgabe der NSDAP-Zeitung Völkischer Beobachter „über 10.000 Volksgenossen“2 versammelten. Während dieser Kundgebungen – so stellte es die NS-Führung später dar – habe sich dann die Neuigkeit verbreitet, dass vom Rath, das Opfer des Pariser Attentats, seinen Verletzungen erlegen war. Daraufhin sei es zu „spontanen judenfeindlichen Kundgebungen“3 gekommen.
Die als „spontane Kundgebungen“ verharmlosten gewalttätigen Ausschreitungen richteten sich gegen religiöse Einrichtungen und andere sichtbare Organisationen jüdischen Lebens. Wie fast alle Synagogen wurde auch der Kaiser-Franz-Joseph-Regierungsjubiläums-Tempel in der Siebenbrunnengasse – die Synagoge für den vierten und fünften Bezirk – zerstört.4
Allein in Wien wurden bei den als „spontaner Volkszorn“ inszenierten Pogromen 42 Synagogen und Bethäuser sowie zahlreiche Wohnungen und Geschäfte jüdischer BürgerInnen zerstört.5 Wie aus dem Tagesbericht der Gestapo vom 17. bis 18. November 1938 hervorgeht, wurden „bei der Judenaktion in Wien 6.547 Juden festgenommen“, wovon „3.700 Juden in das K.L. Dachau eingewiesen, 1.865 vorläufig zurückgestellt und 982 „entlassen“6 wurden. Im Zuge der Verhaftungen kam es zu unzähligen Misshandlungen und zu mindestens 22 Ermordungen.7
Der Terror ging aber weit darüber hinaus. Wohnungen wurden gestürmt, das Inventar zertrümmert, die BewohnerInnen geschlagen und erniedrigt, Wertgegenstände entwendet und Fenster eingeschlagen. Auch wurden Geschäfte von Jüdinnen und Juden systematisch geplündert und die Auslagen beschmiert oder eingeschlagen. In der Nacht wurden neben zahlreichen Morden auch einige Selbsttötungen verzweifelter Opfer begangen.
Die weitaus meisten Menschenleben forderten die später folgenden Massenverhaftungen von Juden. Die Staatsspitze befahl die Festnahme von 20.000 bis 30.000 männlicher, vorzugsweise wohlhabender Juden. Sie wurden in Konzentrationslager verschleppt, wo schon bei der Einlieferung Dutzende von ihnen ermordet wurden. Den übrigen Verhafteten wurde mitgeteilt, sie hätten nur dann mit ihrer Entlassung zu rechnen, wenn es ihren Familien gelänge, die Auswanderung zu organisieren. Infolge der brutalen Behandlung in den Konzentrationslagern starben in wenigen Monaten Hunderte der Inhaftierten. Jene, die überlebten, kamen schrittweise bis Mitte 1939 frei und verließen das Deutsche Reich, so der auf der Wieden lebende Salomon Gottfried. Der 1895 in Polen geborene Handelsvertreter wohnte in der Apfelgasse, als er am 10. November festgenommen wurde. Er wurde jedoch nicht in ein KZ deportiert, sondern bis Ende des Monats in Wien inhaftiert. Nachdem er sich unter Zwang zur Auswanderung bis spätestens Jänner 1939 verpflichtete, ließ man ihn gehen. Tatsächlich gelang Gottfried Mitte Jänner die Flucht nach Großbritannien.8 Dem 51-jährigen Louis Schulz, wohnhaft in der Seisgasse, blieb dagegen der Terror der Konzentrationslager nicht erspart. Auch ihn verhaftete man am 10. November und überstellte ihn umgehend in das KZ Dachau. Nachdem auch er sich verpflichtet hatte, „binnen weniger Wochen“ das Land zu verlassen, wurde er Ende 1938 aus dem KZ entlassen und emigrierte nach Palästina.9
Wie „nichtjüdische“ WiednerInnen sich während der öffentlichen Exzesse gegen ihre NachbarInnen, Klassen- und ArbeitskollegInnen verhielten, ist nicht überliefert. Anzunehmen ist, dass sie ein ähnliches Spektrum an Reaktionen zeigten, wie die Bevölkerung im Rest des Deutschen Reiches. Vielerorts zogen besonders die brennenden Synagogen Schaulustige an, die das Geschehen passiv beobachteten, in etlichen Fällen aber auch selbst Gewalt ausübten. Vereinzelte Unmutsäußerungen – sogar von NSDAP-Mitgliedern – richteten sich kaum gegen die Art der Behandlung der Jüdinnen und Juden selbst, als vielmehr gegen die Zerstörung ihres Hab und Gutes, das nun nicht mehr „arisiert“ werden konnte. Von Akten der Solidarität mit den Opfern, Äußerungen des Mitgefühls oder Bedauern über deren Schicksal ist dagegen wenig bekannt.
Abseits der gewaltigen Zerstörungen, der Terrorisierung, Verletzung und Ermordung von Menschen brachten die Novemberpogrome eine Verschärfung der Beraubungsmaßnahmen. Entscheidende Anstöße, um die Enteignung von Jüdinnen und Juden und deren gänzliche Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben voranzutreiben, lieferte am 12. November 1938 der österreichische Nationalsozialist und kurzzeitige Handelsminister Hans Fischböck,10 dessen Ideen von Hermann Göring – seit 1936 Beauftragter für den Vierjahresplan – aufgegriffen wurden.11
MATTHIAS KAMLEITNER
- 1) Vgl. Die heutigen Feiern in den Kreisen, Völkischer Beobachter – Wiener Ausgabe, 9. 11. 1938, 15.
- 2) Vgl. Wien dankt den Vorkämpfern großdeutscher Freiheit, Völkischer Beobachter – Ausgabe Niederdonau, 10. 11. 1938, 14.
- 3) Judenfeindliche Kundgebungen in Wien, Neue Freie Presse, 11. 11. 1938, 5.
- 4) Vgl. Die Folgen der Pariser Bluttat, Neues Wiener Tagblatt, 11. 11. 1938, 6.
- 5) Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien, 502-523
- 6) Tagesrapport Gestapo Wien Nr. 8, 17.–18. 11. 1938; zit. n.: Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien, 270.
- 7) Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien, 521.
- 8) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 77, AFB-Nr. 7253 (Salomon Gottfried).
- 9) Vgl. ÖStA, AdR, EuRANG, VVSt, VA 5997 (Louis Schulz); . WStLA, 1.3.2.119.B4.1 VEAV: 4. Bezirk, 366 (Louis Schulz).
- 10) Vgl. Safrian, Expediting Expropriation and Expulsion, in: Holocaust Genocide Studies 14 (2000) 3, 390–414, 400–401.
- 11) Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien, 525.