Ghettoisierung: Die „Umsiedelungen“ in „Sammelwohnungen“

Razzia Eichmann

Adolf Eichmann (hinten, Blick in Richtung Kamera) im März 1938 während einer Gestapo-Razzia im Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse. (Foto: DÖW)

Seit 1919 hatte in Wien die sozialdemokratische Stadtregierung durch die Errichtung von Gemeindebauten die Schaffung sozialen Wohnraums vorangetrieben. Nach der Machtübernahme des Austrofaschismus 1933 waren diese Bemühungen weitgehend zum Erliegen gekommen,1 was bis 1938 zu einem enormen Wohnungsmangel geführt hatte. Die Nationalsozialisten versuchten dieses Problem auf Kosten der jüdischen Bevölkerung zu lösen.2 Jüdische MieterInnen wurden von der Gemeinde Wien aus den kommunalen Wohnbauten hinausgeworfen. Im privaten Sektor ging die „Arisierung“ anfangs weitgehend auf die Initiative von HausbesitzerInnen und niedrigen NS-Funktionären zurück.3 Diese „wilden Arisierungen“ folgten einer klaren Konjunktur: Je eher die TäterInnen den Eindruck hatten, dass jüdische Bürger seitens des Staates keinerlei Schutz mehr zu erwarten hatten, desto ungehemmter gingen sie bei den Enteignungen vor. Kaum überraschend waren es gerade die Monate März und November 1938, in denen besonders viele jüdische BewohnerInnen aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. 4

 

Tagesrapport der Gestapo Wien vom 8. bis 10. Oktober 1938

„Die Übergriffe von NSDAP-Angehörigen gegen Juden haben immer noch nicht aufgehört. Am 8. Oktober 1938 wurden in mehreren Häusern des IV. Bezirkes Plakate angebracht, in denen jüdische Hausbewohner zum Ausziehen aufgefordert wurden. Die Plakate haben u. a. folgenden Wortlaut: ‚Es wird zur Kenntnis gebracht, dass bis längstens 10. Oktober 1938 Ihre Wohnungen geräumt sein müssen, ganz egal, ob Sie Verlängerungen erhalten oder Gesuche an welche Stelle immer eingebracht haben.‘“5

 

Im März 1939 führte das Wiener Wohnungsamt eine bürokratisch organisierte Judenumsiedelungsaktion durch.6 Diese zielte in erster Linie auf die „Freimachung möglichst sämtlicher Judenwohnungen in Arierhäusern durch Unterbringung der jüdischen Wohnungsinhaber in Judenhäusern“7 ab. Im Zuge der Aktion erging an 13.600 „arische“ HausbesitzerInnen die Aufforderung, jüdischen MieterInnen die Wohnung aufzukündigen. Die allermeisten der nun obdachlos Gewordenen mussten in die Bezirke Leopoldstadt, Alsergrund und Brigittenau umziehen, da sich hier ein Großteil der sogenannten „Judenhäuser“ (d.h. im Besitz von Jüdinnen oder Juden stehende Gebäude) befand. 8 In kürzester Zeit waren die neu zugewiesenen Quartiere heillos überfüllt, viele Betroffene mussten die Wohnung mehrmals wechseln.9

 

Im Mai 1939 verloren die Jüdinnen und Juden Österreichs mit der Verordnung zur Einführung des Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden in der Ostmark 10 de facto ihren gesetzlichen Mieterschutz. Mehr noch: Sie waren fortan nicht mehr berechtigt, Liegenschaften zu bewohnen, die sich im Besitz von „ArierInnen“ befanden.11 Formaljuristisch war erst jetzt möglich, was schon seit über einem Jahr gängige Praxis war: jüdischen MieterInnen grundlos den Mietvertrag zu kündigen.12 Diese innerhalb der Verwaltung auch verharmlosend Judenumsiedelungsgesetz genannte Verordnung, fand im September 1940, als der Mieterschutz auch für Wohnungen in „Judenhäusern“ aufgebogen wurde, seine Fortsetzung.13 Im Zuge der Maßnahme der sogenannten „Judenfreimachung“ wurden die meisten jüdischen BewohnerInnen des vierten Bezirks zwischen Herbst 1938 und Frühling 1940 in andere Bezirke „umgesiedelt“.14

 

Das jüdische Altersheim in der Seegasse 9.

Besonders wehrlos waren dem NS-Terror ältere Menschen ausgeliefert, die oft nicht nur arm waren, sondern auch kaum Chancen hatten, in einem anderen Land Aufnahme zu finden. Häufig mussten diese von ihren Angehörigen deshalb zurückgelassen werden und waren nun gänzlich auf sich alleine gestellt. Viele betagte Personen, die aus ihren Wohnungen geworfen wurden, zogen daraufhin in den 9. Bezirk. Hier befand sich im ehemaligen Spital der Kultusgemeinde in der Seegasse 915 das jüdische Altersheim.16 Auf engstem Raum lebten hier mindestens 950 Menschen bis zu ihrer Deportierung.17 Zu diesen zählten auch neun Frauen und sieben Männer aus dem vierten Bezirk. Sie wurden zwischen 1941 bis 1943 vor allem ins Ghetto Theresienstadt, aber auch in die Ghettos in Izbica und Opole sowie ins Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk verschleppt. Niemand von ihnen überlebte.18

 

Matthias Kamleitner

  1. 1) Infolge des Aufhebens der Wiener Stadtverfassung Ende März 1934 beschränkte sich die Bautätigkeit der Gemeinde Wien lediglich auf das Fertigstellen bereits in Bau befindlicher Gemeindebauten. Vgl. Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, in: Clemens Jabloner/Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Georg Graf/Robert Knight/Lorenz Mikoletzky/Bertrand Perz/Roman Sandgruber/Karl Stuhlpfarrer/Alice Teichova (Hg.), „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, 91–240, 101.
  2. 2) Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 15-18, 120.
  3. 3) Vgl. Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, in: Clemens Jabloner/Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Georg Graf/Robert Knight/Lorenz Mikoletzky/Bertrand Perz/Roman Sandgruber/Karl Stuhlpfarrer/Alice Teichova (Hg.), „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, 91–240, 115-119.
  4. 4) Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 57-58.
  5. 5) Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, 78–79.
  6. 6) Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 78.
  7. 7) Schreiben Hans Berners (Kreisleiter Kreis I.) an Gauorganisationsleiter Gruß, 5. 10. 1939. Tagblatt-Archiv, Mappe NS-Juden 1939; zit. n.: Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 78.
  8. 8) Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 78.
  9. 9) Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, in: Clemens Jabloner/Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Georg Graf/Robert Knight/Lorenz Mikoletzky/Bertrand Perz/Roman Sandgruber/Karl Stuhlpfarrer/Alice Teichova (Hg.), „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, 91–240, 217.
  10. 10) Vgl. RGBI I 1939, 906, Verordnung zur Einführung des Gesetzes über die Mietverhältnisse mit Juden in der Ostmark vom 10. 5. 1939.
  11. 11) Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 62-63.
  12. 12) Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, in: Clemens Jabloner/Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Georg Graf/Robert Knight/Lorenz Mikoletzky/Bertrand Perz/Roman Sandgruber/Karl Stuhlpfarrer/Alice Teichova (Hg.), „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, 91–240, 119.
  13. 13) Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 78
  14. 14) Die Erhebung erfolgte anhand der letzten Wiener Adresse aller recherchierten Personen, bevor diese deportiert bzw. ermordet wurden. Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (2014–2015).
  15. 15) Gleich neben dem Altersheim befindet sich bis heute der älteste jüdische und zugleich älteste erhaltene Friedhof Wiens, dessen Grabsteine bis in das 16. Jahrhundert zurückreichen. Vgl. Elisabeth Anthony/Dirk Rupnow, Wien IX, Seegasse 9, in: Jim G. Tobias/Peter Zinke (Hg.), Nurinst 2010. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Bd. 5, Leben danach – jüdischer Neubeginn im Land der Täter, Nürnberg 2010, 98–113, 98.
  16. 16) Vgl. Gerhard Milchram, Objektbeschreibung „Verordnung der k.k. Landesregierung“, in: Felicitas Heimann-Jelinek/Bettina Dräxler im Auftrag des jüdische Museums der Stadt Wien (Hg.), Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Wien 2007, 141.
  17. 17) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (2014–2015).
  18. 18) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 29, AFB-Nr. 11500 (Moriz Kaufmann), A/W 2589, 90, 1938/35967a (Ida Goldberger), A/W 2590, 14, 1938/37010 (Oskar Bellak).

Vom "Anschluss" zum Holocaust