Der Schock des Anschlusses und die Entscheidung zur Flucht

begeisterte Nazis

Wien, im März 1938: Begeisterte Nazis prägen das Straßenbild. Inmitten der Euphorie beginnen die Ausschreitungen gegen politische Gegner und „rassisch“ Missliebige – vor allem gegen Juden und Jüdinnen. (Foto: ÖNB, S 305/16)

Schon vor 1938 war es in Österreich bekannt gewesen, dass Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich systematisch diskriminiert sowie öffentlich angegriffen und verhöhnt wurden. Mit der Verfolgungswelle, die ab dem „Anschluss“ im März 1938 praktisch über Nacht über sie hereinbrach, hatten die meisten Betroffenen jedoch nicht gerechnet. Massenhafte Übergriffe, Demütigungsrituale, Beraubungen, Verhaftungen, Folter, Verschleppungen in Konzentrationslager in Kombination mit einer wahren Flut an rechtlichen Diskriminierungen waren ein tiefer Schock, der noch Jahrzehnte später in den Berichten von ZeitzeugInnen zum Ausdruck kam. Die Erfahrung, von einem Tag auf den anderen völlig rechtlos zu sein, ungestraft beleidigt, geschlagen und beraubt werden zu können, ohne auf den Schutz der Polizei und anderer öffentlicher Stellen hoffen zu können, veranlasste weite Teile der jüdischen Bevölkerung innerhalb weniger Monate zur Flucht.1

Nachdem österreichische Jüdinnen und Juden anfangs von den NS-Behörden eher an der Ausreise gehindert wurden, änderte das Regime ab Mai 1938 rasch seine Politik in Richtung einer organisierten Vertreibung.[Fußnote: Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Wien 2008, 332] Dabei war man bestrebt, die nach dem „Anschluss“ in Wien massiv vorherrschende Pogromstimmung zu kanalisieren und sich für eine beschleunigte Vertreibungs- und Enteignungspolitik zu nutzen. 2 In der Folge wurden „die Bedingungen zur Ausreise […] so weit verschärft, dass Juden nur nach nahezu vollständiger Beraubung gestattet wurde, das Land zu verlassen.“3

 

Matthias Kamleitner

  1. 1) Peter Schwarz/Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817-849, 817.
  2. 2) Vgl. Hans Safrian, Expediting Expropriation and Expulsion, in: Holocaust Genocide Studies 14 (3), 390–414, 404–405.
  3. 3) Theodor Venus/Alexandra-Eileen Wenck, Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 20/2), Wien-München, 2004, 30.

Flucht & Vertreibung