Die Enteignung der Jüdinnen und Juden wurde seitens der NS-Behörden bis November 1938 durch immer neue Verordnungen und Gesetze weiter vorangetrieben.
Während des Novemberpogroms am 9. und 10. November 1938 wurden Geschäfte und Wohnungen von Jüdinnen und Juden u. a. von SA-Trupps demoliert und geplündert. Bei „Hausdurchsuchungen“ wurden Vermögenswerte „beschlagnahmt“. Der Bericht des Wiener Polizeipräsidenten an Reichskommissar Bürckel vom 14. November 1938 vermittelt eine Vorstellung von den Dimensionen des Geschehens: Dieser berichtete über Raub, Plünderungen, Beschlagnahmungen und Demolierungen sowie über Selbstmorde von Jüdinnen und Juden, für die angebliche Gründe angeführt wurden. 1
„[…] 30) Am 12. XI. 1938 um 21.30 Uhr, wurden die Juden Marie Parnes, Legationssektret[ärs‑]Gattin der poln[ischen] Gesandsch[aft], Wien, Favoritenstr. 24/12 wohnh[aft] gewesen, Dr. Leon Majulek, Lobkowitzplatz 1, und Marcel Mondrochowicz, Taubstummengasse 2/19, wegen Verdacht des Austausches von kommunistischen Schriften auf Veranlassung eines uniformierten SS-Mannes festgenommen. […] 39) Am 12. XI. 1938 beschlagnahmte der Ortsgruppenleiterstellvertreter Josef Blaschek, Wiednergürtel 12, mit mehreren Parteiangehörigen bei dem jüdischen Drogisten Dr. Bruno Linsker, Karolinengasse 17, verschiedene Waren. Dieselben wurden zur Ortsgruppe Mommsengasse gebracht. Nach Hinweis durch die Polizei nahmen die Parteifunktionäre von einer weiteren Beschlagnahme Abstand.“ 2
Obwohl der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich Plünderungen untersagt hatte, raubten und brandschatzten NS-Anhänger, vor allem Angehörige der SA, in Wien ca. 5.000 Geschäfte oder Betriebe, die sie zuvor mit Jüdinnen und Juden in Verbindung hatten bringen können. Die Ausschreitungen richteten sich nicht nur gegen Menschen, die nach den Nürnberger Gesetzen als „Volljuden“ galten, sondern auch gegen sogenannte „Mischlinge“ und „arische“ PartnerInnen, welche in „Mischehen“ lebten. 3
Am Morgen des 10. Novembers 1938 ließ der Wiener Gauleiter Odilo Globocnik 4 alle verbliebenen Betriebe jüdischer BesitzerInnen schließen und befahl diesen die Abgabe der Schlüssel bei der Polizei. Wohnungen von bereits geflüchteten Jüdinnen und Juden, welche nun verlassen waren, sollten versiegelt werden. „Bei Wohnungen und Geschäften, wo die Voraussetzung der Sicherung der Ware nicht mehr gewährleistet ist, hat dies sofort in entsprechende Räume bei den Kreis- oder Ortsgruppenleitungen zusammengetragen zu werden.“ 5 Nach einer Zusammenstellung der gesperrten jüdischen Geschäfte in Wien und deren arische Gefolgschaft vom 22. November 1938 wurden in den vorangegangenen zwei Wochen 4.862 Betriebe auf diese Weise gesperrt. 6
Das Novemberpogrom beschleunigte direkt durch die Plünderungen und indirekt durch die Gesetze die völlige Enteignung der Jüdinnen und Juden und entzog ihnen nun endgültig ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Durch die Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben 7 vom 19. November 1938 wurde Jüdinnen und Juden untersagt, Geschäfte zu betreiben und es waren nur mehr „Zwangsarisierungen“ unter staatlicher Kontrolle möglich. Mit der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens 8 vom 3. 12. 1938 mussten alle jüdischen EigentümerInnen ihre Betriebe in einer bestimmten Frist „verkaufen“ oder „liquidieren“. Beide Gesetze markierten den Abschluss im Enteignungsprozess.
- 1) Vgl. ÖStA, AdR, ZNsZ, RK Materie, 2010/1.
- 2) Vgl. ÖStA, AdR, ZNsZ, RK Materie, 2010/1.
- 3) Als „Mischlinge“ kategorisierten die Nationalsozialisten in der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1935 jene Personen, bei denen ein oder beide Großelternteile als „Volljüdin“ oder „Volljuden“ definiert wurden. Wurde bei einer Ehe eine Ehepartnerin oder ein Ehepartner als „jüdisch“ eingestuft, galt diese als „Mischehe“. Im Unterschied zu Jüdinnen und Juden waren diese Personengruppen nicht im selben Ausmaß von den Verfolgungsmaßnahmen betroffen, dennoch war der wachsende Verfolgungsdruck im Alltag für sie spürbar. Vgl., RGBl. I 1935, 1333–1334, Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz; Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 2002; Michaela Raggam-Blesch, Die Situation weiblicher „Mischlinge“ und „Geltungsjüdinnen“ während der Zeit des NS-Regimes in Wien, in: Linda Erker/Alexander Salzmann/Lucile Dreidemy/Klaudija Sabo (Hg.), Update! Perspektiven der Zeitgeschichte, Zeitgeschichtetage 2010, Innsbruck–Wien–Bozen 2010, 604–611; Michaela Raggam-Blesch, „Mischlinge“ und „Geltungsjuden“, in: Andrea Löw/Doris L. Bergen/Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust, München 2013, 81–97.
- 4) Globocnik wurde später aufgrund allzu offensichtlicher Inkompetenz und Korruption abgezogen und gehörte dann zu den zentralen Personen des Massenmordes im von Deutschen Reich besetzten Polen.
- 5) ÖStA, AdR, ZNsZ, RK Materie, 2010/0.
- 6) Vgl. ÖStA, AdR, ZNsZ, RK Materie, 2160/0 Band I.
- 7) GBfLÖ, 584/1938, Bekanntmachung der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. 11. 1938.
- 8) GBfLÖ, 633/1938, Bekanntmachung der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. 12. 1938.