Aufgrund des Kriegsverlaufs 1940/41 mussten viele jüdische Flüchtlinge in zunächst sicher geglaubten Exilländern erneut um ihr Leben fürchten. Als Auswegmöglichkeiten blieben lediglich das Untertauchen oder die illegale Grenzüberquerung, um auf neutralen Boden zu gelangen. Staaten wie die Schweiz und Spanien bewachten ihre Grenzen aber scharf und für den Schritt in die Illegalität bedurfte es eines großen Unterstützungsnetzwerkes, über das die weitaus meisten Geflüchteten nicht verfügten. In weiterer Folge gerieten daher auch sie in die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Alleine unter den nach Frankreich und Ungarn geflüchteten Menschen wurden jeweils mehr als 3.000 Personen zu Opfern des Holocausts.1
Auch ein nicht unerheblicher Teil der jüdischen BewohnerInnen des vierten Bezirks konnte sich nach dem „Anschluss“ zwar zunächst ins Ausland retten, geriet aber im Laufe des Zweiten Weltkriegs erneut in die Gewalt des nationalsozialistischen Terrorapparats. Besonders stark betroffen waren hierbei WiednerInnen, die in die Tschechoslowakei, nach Frankreich, Jugoslawien oder Ungarn geflüchtet waren.
Anteil von Wiedner EmigrantInnen, die in ihren Fluchtländern Opfer der NS-Verfolgung wurden. 2
Der nächste Staat, der aus Sicht der NS-Führungsebene nach dem „Anschluss“ Österreichs dem Deutschen Reich angegliedert werden sollte, war die Tschechoslowakei (ČSSR). Als Vorwand dafür wurde der Umstand vorgeschoben, dass der ČSSR durch den Versailler Vertrag Gebiete mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung zugesprochen worden waren. Entsprechenden Forderungen Hitlers auf „Rückgabe“ dieser Territorien kamen Frankreich und Großbritannien im September 1938 nach. Schon bald mussten die Westmächte aber zur Kenntnis nehmen, dass sich das Deutsche Reich mit derartigen Zugeständnissen nicht zufrieden gab. Berlin forcierte eine Spaltung der ČSSR, indem es die Regierung der autonomen Slowakei unter Drohungen zwang, ihre Unabhängigkeit zu erklären. Überdies ermunterte das Deutsche Reich erfolgreich Polen und Ungarn, ebenfalls tschechoslowakische Territorien unter ihre Kontrolle zu bringen. Im März 1939 folgte schließlich der letzte Schlag, in der NS-Diktion die „Erledigung der Rest-Tschechei“. Dem Einmarsch der deutschen Truppen folgte die Errichtung des sogenannten Protektorats Böhmen und Mähren. Wenig später setzte nun auch hier die Verfolgung von Jüdinnen und Juden ein, die ab Herbst 1941 in Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager gipfelte.3
Eine Reihe von Jüdinnen und Juden aus dem vierten Wiener Gemeindebezirk, die zunächst in der Tschechoslowakei Zuflucht gefunden hatten, sahen sich nun wieder dem nationalsozialistischen Terror ausgesetzt. Sie wurden in den Jahren 1941 bis 1943 – insbesondere aus Prag und Brünn – ins Ghetto Theresienstadt gebracht und von dort aus weiter nach Auschwitz, Maly Trostinec oder Riga deportiert, wo fast alle von ihnen ermordet wurden.4 So wurde der in Wien geborene Bauingenieur Emil Flesch aus der Prinz-Eugen-Straße5 im Juli 1942 im Alter von 56 Jahren von Prag nach Theresienstadt sowie bereits einen Monat später weiter nach Maly Trostinec deportiert und schließlich ermordet.6
Andere, wie der in der Mühlgasse lebende Schauspieler und Regisseur Robert Jokl,7 wurden in das Ghetto Litzmannstadt deportiert.8 Auch Jokl überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht. Weder Zeit, Ort noch nähere Umstände seines Todes sind bekannt.
Slowakei
In der scheinbar unabhängigen und de facto zum „Schutzstaat“ des Deutschen Reiches degradierten Slowakischen Republik9 kam es ab 1939 zu rechtlichen Diskriminierungen von Jüdinnen und Juden. Mit dem Judenkodex, einem Gesetz nach Vorbild der Nürnberger Gesetze, fand diese Politik der Entrechtung im September 1941 ihren Höhepunkt und Abschluss – ab diesem Zeitpunkt waren „Nichtarier“ de facto vogelfrei. Im März 1942 setzten die Deportationen in die Vernichtungslager ein. 10
Nach Verlusten der Wehrmacht an der Ostfront in den Wintermonaten 1942/43 schöpften oppositionelle Kräfte in der Slowakei wieder Hoffnung: Untergrundaktivitäten nahmen stark zu und mündeten schließlich im Sommer 1944 im sogenannten Slowakischen Nationalaufstand. Dieser wurde durch deutsche Truppen niedergeschlagen, die das Land anschließend besetzten. Infolgedessen wurden Tausende der noch nicht deportierten Jüdinnen und Juden von der SS ermordet, 11 darunter Jakob Weisz. Der 1884 in Bratislava geborene Weisz hatte am Südtiroler Platz gewohnt. Nach dem „Anschluss“ war er in die Slowakei geflüchtet und lebte zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches in der Stadt Nitra. Dort wurde er im November 1944 ermordet.12
Frankreich
Die österreichischen EmigrantInnen in Frankreich wurden durch das Deutsche Reich zeitlich versetzt eingeholt. Diejenigen, die sich im nördlichen Landesteil befanden, welchen die Wehrmacht nach dem Sieg über Frankreich besetzt hatte, fielen sofort in die Hände der Besatzer. Viele konnten sich nicht retten, weil sie von Frankreich nach Kriegsbeginn als „feindliche AusländerInnen“ interniert worden waren und direkt in den Lagern den deutschen Siegern übergeben wurden. Auch diejenigen, die rechtzeitig nach Südfrankreich hatten kommen können, wo nunmehr das Kollaborationsregime in Vichy regierte, waren deshalb noch nicht in Sicherheit. Das zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich geschlossene Waffenstillstandsabkommen sah auch hier die Auslieferung bestimmter, vonseiten der Siegermacht namhaft gemachter Personen vor. In der Folge wurden von den französischen Behörden vor allem ausländische Jüdinnen und Juden an das Deutsche Reich übergeben. Im November 1942 geriet auch der Süden Frankreichs unter deutsche Besatzung. Bereits zuvor waren dort unter Beteiligung der Vichy-Regierung Jüdinnen und Juden in Lager gesperrt worden, von wo man sie in Transitlager in Nordfrankreich überstellte und dann weiter in die Vernichtungsstätten des Deutschen Reiches deportierte.13
Auch mehr als 40 WiednerInnen wurden aus Sammellagern wie Drancy und Gurs in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor gebracht.14 Beispielhaft dafür ist etwa die Familie Zwirn. Die Eltern Salo (geb. 1899) und Anna Zwirn (geb. 1903) hatten 1938 gemeinsam mit ihren Kindern – dem zwölfjährigen Edwin und der siebenjährigen Susanne – in der Blechturmgasse gelebt.15 Nach dem „Anschluss“ waren die vier nach Frankreich geflohen, wo sie 1940 von der Wehrmacht eingeholt wurden. Die Familie fand sich bald neuerlich in einer Spirale aus Verfolgung, Zwangsarbeit und schließlich der Einweisung in das Durchgangslager Drancy. Von dort wurden Anna, Susanne, Salo und Edwin Zwirn im September 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Niemand von ihnen überlebte.16
Jugoslawien
Im April 1941 überfiel die Deutsche Wehrmacht Jugoslawien und Griechenland. Auf diese Weise wollte die Reichsführung ihre Südgrenze für den geplanten Angriff auf die Sowjetunion sichern und britische Vorstöße auf die kriegswichtigen rumänischen Ölfelder verunmöglichen. Zugleich ging es auch darum, den italienischen Bündnispartner zu unterstützen, der im Herbst 1940 beim Versuch Griechenland zu überfallen, eine deutliche Niederlage erlitten hatte. Jugoslawien hatte gegen die deutsche Übermacht keine Chance und kapitulierte nach elftägigen Kämpfen, die insbesondere bei der Bombardierung Belgrads auch Tausende Tote unter der Zivilbevölkerung gefordert hatten. Der Niederlage Jugoslawiens folgte eine Aufteilung des Landes zugunsten des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten: Serbien kam im Wesentlichen unter deutsche Militärverwaltung, Slowenien und Teile Kroatiens gingen hingegen geteilt an Deutschland, Italien und Ungarn. In Kroatien, dem Gebiet des heutigen Bosnien-Herzegowinas, sowie in Teilen Serbiens wurde der im Einfluss des Deutschen Reiches und Italiens stehende sogenannte Unabhängige Staat Kroatien unter dem Ustascha-Regime errichtet.17 Früher oder später wurden auf sämtlichen genannten Gebieten Jüdinnen und Juden verfolgt, deportiert oder noch im Land ermordet. Am energischsten und brutalsten ging dabei neben den deutschen Machthabern das Ustascha-Regime in Kroatien vor, das mit Jasenovac auch ein eigenes Vernichtungslager betrieb, in dem Zehntausende Menschen aufgrund ihrer serbischen, jüdischen, oder romanischen Abstammung ermordet wurden. 18
Der Kladovo-Transport
In den Ausbildungslagern des zionistischen Hechaluz in Niederösterreich befanden sich zu Kriegsbeginn im September 1939 noch mehrere Hundert Jugendliche und junge Erwachsene, die auf ihre Ausreise nach Palästina warteten. Unter Androhung einer Massendeportation nach Polen übte Adolf Eichmann in dieser Situation auf den Hechaluz Druck aus, seine Mitglieder außer Landes zu bringen. Daraufhin wurde in aller Eile ein Transport auf mehreren Donauschiffen organisiert, der im November 1939 Wien verließ. Als Ende Dezember 1939 die rumänischen Behörden dem Transport die Weiterfahrt verweigerten, kam dieser im jugoslawischen Donauhafen Kladovo zum Stillstand. Erst im September 1940 wurden die Flüchtlinge in die kleine Industriestadt Šabac verlegt. Von dort gelang Ende März 1941 – kurz vor dem Überfall des Deutschen Reiches auf Jugoslawien – etwa einem Fünftel der Flüchtlinge die Weiterreise nach Palästina. Die große Mehrheit wurde hingegen wenige Tage später von den deutschen Besatzern eingeholt. Im Oktober 1941 wurden alle Männer des Transportes, unter ihnen auch mehrere Wiedner19, von der Wehrmacht erschossen.20
Unter den Opfern dieses zweitägigen Massakers befand sich der 42-jährige Chemieputzer David Goldschmidt aus der Graf-Starhemberg-Gasse 9.21 Seine Frau Rosa Goldschmidt, die in Wien als Buchhalterin gearbeitet hatte, blieb vorerst mit den anderen Frauen und Kindern zurück, im Jänner 1942 deportierte die SS sie und weitere Frauen in das KZ Sajmiste bei Belgrad. Dort wurden sie in den folgenden Monaten in eigens umgebauten LKW durch Giftgas ermordet. Es sind lediglich die Namen zweier Überlebender bekannt.22
Ungarn
Ungarn praktizierte in den Jahren 1938 bis 1944 eine wechselhafte Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Während unter Ministerpräsident László Bárdossy aufgrund des dritten Judengesetzes in den Jahren 1941 und 1942 18.000 staatenlose Jüdinnen und Juden verbannt und nicht wenige ermordet wurden, blieben diese unter Bárdossys Nachfolger Miklós Kállay weitgehend verschont. Den Forderungen Berlins, Jüdinnen und Juden zu deportieren, kam Ungarn nicht nach.23
Infolge der Besetzung Ungarns durch Truppen der Wehrmacht im März 1944 gerieten sämtliche Jüdinnen und Juden auf ungarischem Territorium ins Visier Eichmanns und seiner Leute. Ab Mitte Mai 1944 wurden innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende nach Auschwitz deportiert und ermordet.24 Dieses Schicksal ereilte auch den 50-jährigen Andreas Dirsztay, der auf der Wieden in der Theresianumgasse gelebt hatte und zunächst nach Ungarn hatte fliehen können.25
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden 1944 noch über 70.000 ungarische Jüdinnen und Juden vor dem Eintreffen der Roten Armee in Ungarn nach Österreich deportiert, wo sie in hoher Zahl als ZwangsarbeiterInnen am sogenannten Südostwall – als Verteidigungsanlagen gegen die Sowjetarmee vorgesehen – eingesetzt wurden. Als sich Ende März 1945 russische Truppen der heutigen österreichischen Grenze näherten, wurden die ZwangsarbeiterInnen in Konzentrationslager (insbesondere nach Mauthausen) gebracht. Viele von ihnen mussten den Weg dorthin zu Fuß zurücklegen. Auf diesen Todesmärschen sowie in den Konzentrationslagern wurden in den letzten Kriegstagen noch Tausende der ungarischen Jüdinnen und Juden ermordet.26
MATTHIAS KAMLEITNER
- 1) Vgl. Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, 72–79.
- 2) Angaben in Prozent gerundet, N=160.
- 3) Vgl. Andrea Löw, Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren. September 1939–September 1941, München 2012, 14, 23–64.
- 4) Diese Feststellung basiert auf jenen recherchierten Personen, die ursprünglich auf der Wieden gelebt hatten und laut der Holocaust-Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes aus genannten Orten deportiert wurden.
- 5) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 93, AFB-Nr. 37130 (Emil Flesch).
- 6) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Emil Flesch, 19. 10. 2015).
- 7) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 94, AFB-Nr. 37501 (Robert Jokl).
- 8) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Robert Jokl, 19. 10. 2015).
- 9) Vgl. Jörg K. Hoensch, Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei, München 2000, 226
- 10) Vgl. Jörg K. Hoensch, Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei, München 2000, 272-273.
- 11) Jörg K. Hoensch, Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei, München 2000, 276-277
- 12) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Jakob Weisz, 25. 11. 2015).
- 13) Vgl. Kristina Schewig-Pfoser/Ernst Schwager, Österreicher im Exil. Frankreich 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien-München 1984, 8-10.
- 14) Diese Feststellung basiert auf jenen recherchierten Personen, die ursprünglich auf der Wieden gelebt hatten und laut Opfersuche des DÖW aus genannten Orten deportiert wurden.
- 15) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 86, AFB-Nr. 26944 (Salo Zwirn).
- 16) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Anna, Salo, Edwin und Susanne Zwirn, 3. 8. 2015).
- 17) Vgl. Anna Grünfelder, Von der Shoa eingeholt. Ausländische jüdische Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien 1933-1945, Wien-Köln-Weimar 2013, 99.
- 18) Vgl. Anna Grünfelder, Von der Shoa eingeholt. Ausländische jüdische Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien 1933-1945, Wien-Köln-Weimar 2013, 201.
- 19) Diese Feststellung basiert auf jenen recherchierten Personen, die ursprünglich auf der Wieden gelebt hatten und laut Opfersuche des DÖW in Zasavica ermordet wurden.
- 20) Vgl. Christopher Browning, Fateful Months. Essays on the Emergence oft he Final Solution, New York 1991 1991, 49-50; Walter Manoschek „Serbien ist Judenfrei“. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1995, 62.
- 21) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 14, AFB-Nr. 5263 (David Goldschmidt); DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge David Goldschmidt, 29. 11. 2015).
- 22) Walter Manoschek „Serbien ist Judenfrei“. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1995, 181.
- 23) Vgl. Regina Fritz, Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944, Göttingen 2012, 53-54.
- 24) Vgl. Frank Baron, Einleitung, in: Frank Baron/Sándor Szenes (Hg.), Von Ungarn nach Auschwitz. Die verschwiegene Warnung, Münster 1994, 9-54
- 25) Vgl. Yad Vashem, Datenbank, URL: http://db.yadvashem.org/names/search.html?language=de (Eintrag Andreas Andor von Dirsztay, 3. 12. 2015); DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Andreas Dirsztay, 3. 12. 2015).
- 26) Vgl. Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Toddesmärsche – Folgen, Wien-Münster 2010, 207–208, 385–479.