Wie die meisten anderen gesellschaftlichen Diskriminierungen wirkte sich auch die NS-Judenverfolgung nicht auf alle Betroffenen gleich aus. Dies begann bereits bei den Möglichkeiten zur Flucht, doch auch später unterschieden sich die individuellen Überlebenschancen zum Teil erheblich. Ausschlaggebend war eine Reihe von Faktoren. So waren von den frühen Mordaktionen bis zum Sommer 1941 vorwiegend junge Männer betroffen, während den folgenden Massenmorden in erster Linie Menschen zum Opfer fielen, die aus der Sicht des Regimes lediglich ein geringeres Ausbeutungspotential hatten: arbeitslose Frauen, alte Menschen und Kinder. Neben Alter, Arbeitsfähigkeit und Geschlecht der Verfolgten spielte für das Überleben auch die regionale und soziale Herkunft eine wichtige Rolle. Jüdinnen und Juden aus Mitteleuropa, die in Ghettos auf ehemals polnischem Gebiet deportiert wurden, waren beispielsweise aufgrund ihres verspäteten Eintreffens im bereits abgeschlossenen sozialen Gefüge der Ghettogesellschaft tendenziell schlechter gestellt. Besonders benachteiligt waren Menschen, die keinen Arbeitsdienst leisten konnten, sowie Waisenkinder.1
Auf der Wieden, wo die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung weiblich war, befanden sich unter den Ermordeten ebenfalls zu 54 % Frauen.2 Außerdem waren – wie auch der Altersdurchschnitt von knapp 56 Jahren widerspiegelt – insbesondere ältere Menschen betroffen. Im Gegensatz dazu waren Personen unter 35 Jahren eher eine Ausnahme unter den Ermordeten.3 Der Grund dafür war freilich nicht, dass die NS-Stellen Jüngere geschont hätten – vielmehr hatten sich überproportional viele junge Menschen vor Beginn des Massenmordes im Ausland in Sicherheit bringen können. Besonders sie waren es, die sich nach Einsetzen der Verfolgung als Erste um eine Auswanderung bemüht hatten – und aufgrund ihres Alters und ihrer Ausbildung vergleichsweise gute Chancen hatten, ein Aufnahmeland zu finden.
Währenddessen hofften insbesondere ältere Menschen anfangs auf eine baldige Normalisierung der Lage und ein Abklingen der antisemitischen Hetze. Erst als durch das Novemberpogrom klar geworden war, dass damit nicht zu rechnen war, bemühten sich auch diejenigen um eine Flucht ins Ausland, die bis dahin gezögert hatten.4 Angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen verschärften potenzielle Fluchtländer jedoch rasch ihre Einwanderungsbestimmungen. Grundsätzlich galt: Je schlechter ausgebildet, älter und ärmer ein Mensch war, umso schlechter standen seine Aussichten auf eine Einreisegenehmigung.
Der statistische Monatsbericht der IKG Wien vom September 1940 zeigt denn auch eine stark überalterte jüdische Gesellschaft in der einstigen Bundeshauptstadt. Mehr als 43 % der zu diesem Zeitpunkt noch knapp 47.300 in Wien lebenden Menschen jüdischen Glaubens war bereits über 60 Jahre alt. Weitere 32 % stellte die Gruppe der 45- bis 60-Jährigen,5 zusammen machten diese Gruppen also drei Viertel der Gemeindemitglieder aus.
Der im Oktober 1941 vom Reichssicherheitshauptamt erlassene, endgültige Auswanderungsstopp machte endgültig alle diejenigen zu Opfern der Deportationen, denen die Flucht bis dahin nicht gelungen war.
Neben dem Alter war auch das Ausbildungsniveau für eine erfolgreiche Flucht entscheidend gewesen. Auch das zeigen die Zahlen für den vierten Bezirk deutlich: Die Ermordeten wiesen im Durchschnitt einen deutlich niedrigeren Ausbildungsgrad auf als die Überlebenden.
Hinsichtlich der Berufsgruppen, denen die Ermordeten angehört hatten, stechen dagegen zunächst keinerlei Besonderheiten hervor: Die Mehrzahl der deportierten Frauen waren Hausfrauen gewesen, unter den Männern stellten selbstständige Handelsleute die größte Gruppe – beides entsprach dem Durchschnitt vor 1938.6
Des Weiteren waren Frauen wie Männer unter den Todesopfern relativ stark in Berufen der Textil- und Bekleidungsindustrie sowie als Handelsangestellte tätig gewesen. Deutlich niedriger war bei den deportierten Personen gegenüber den Geflüchteten allerdings der Anteil leitender Angestellter – was wohl auch mit dem höheren Bildungsgrad in Verbindung steht. Ebenso gering war die Anzahl der JuristInnen sowie von Menschen, die in pädagogischen Berufen tätig gewesen waren. Umgekehrt war der hohe Anteil an PensionistInnen und die vergleichsweise geringe Zahl an Studierenden unter den Ermordeten augenfällig.7
Auch hinsichtlich der Geburtsorte der Verfolgten zeigte sich ein differenziertes Bild. Von den rund 3.000 namentlich identifizierten jüdischen Personen auf der Wieden waren 58 % entweder im Bezirk selbst oder in einem Ort auf dem Gebiet der Republik Österreich zur Welt gekommen. Unter den Deportierten lag dieser Anteil unter 50 %. Überproportional oft fielen dem Holocaust also Menschen zum Opfer, die im Lauf ihres Lebens zugewandert waren, viele von ihnen aus der Tschechoslowakei und Polen.8
MATTHIAS KAMLEITNER
- 1) Vgl. Dieter Pohl, Thettos, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager, München 2009, 161-191, 179-180.
- 2) N=1.146.
- 3) N=974. Die Daten basieren auf all jenen recherchierten Personen, die in den Opfer-Datenbanken von DÖW und Yad Vashem aufscheinen.
- 4) Vgl. Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, Wien 1938-1945, der Weg zum Judenrat, Frankfurt/Main 2000, 129.
- 5) Vgl. Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, 41.
- 6) (N=473+416).
- 7) N=167+306
- 8) N=838.