Im Sommer 1941 drängten Entscheidungsträger aus diversen Machtzentren des NS-Staates verstärkt auf das „Abschieben“ der jüdischen Bevölkerungsteile aus dem deutschen Einflussgebiet Mittel- und Westeuropas. In den für „Judenfragen“ zuständigen Stellen der Besatzungsadministration wurden fieberhaft verschiedenste Pläne zu deren „Aussiedelung“ erarbeitet. Da man in den ersten Monaten nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 noch von einem raschen Sieg ausging, wurden auch die östlichsten Gebiete Russlands bzw. Sibiriens in diese Überlegungen miteinbezogen. Nachdem ein solcher Sieg im Verlauf des Sommers 1941 aber zunehmend unwahrscheinlich wurde, entwickelte man neue Vertreibungsstrategien.1
Ab Oktober 1941 wurden auf Anordnung des RSHA deutsche, österreichische und tschechische Jüdinnen und Juden in das Ghetto Litzmannstadt deportiert, wie die polnische Stadt Łódź nun genannt wurde. Das Ghetto befand sich auf ehemals polnischem Terrain, das nunmehr als Reichsgau Wartheland dem Deutschen Reich angegliedert war. Aus Wien wurden bis November in fünf Transporten 5.002 Männer, Frauen und Kinder nach Litzmannstadt gebracht, 2 wo Jüdinnen und Juden – unter Mangelernährung und medizinischer Unterversorgung sowie alltäglicher Gewalt – systematisch durch Arbeit ausgebeutet wurden.3
Auszug aus Hans Biebow Berichts an die Staatspolizeileitstelle Litzmannstadt vom 4. März 1942 über die Folgen des Hungers im Ghetto
„Den klarsten Beweis für die Ernährungslage legen die rapide ansteigenden Sterbeziffern ab. Bei Durchsicht der Todesanzeigen der letzten Wochen ist ein Anwachsen des Fleckfiebers (Hungertyphus) festzustellen. […] Es sind im Ghetto rund 53.000 Arbeiter eingesetzt, die im Wesentlichen im wehrwirtschaftlichen Interesse tätig sind. Jeder, der die Verhältnisse im Ghetto kennt, weiß, daß die Werktätigen buchstäblich an ihren Arbeitsplätzen wegen Entkräftung zusammenbrechen.“4
Parallel dazu begannen mit Beginn des Russlandfeldzuges im Juni 1941 im Hinterland der Front auch die ersten systematischen Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung. Als Täter agierten Polizei- und SS-Einsatzgruppen unter Beteiligung der Wehrmacht.5 Nachdem sich die ersten Mordaktionen beinahe ausschließlich gegen Männer gerichtet hatten, töteten die Einsatzgruppen ab August 1941 auch Frauen und Kinder. Bis Jahresende wurden auf diese Weise rund 800.000 Menschen ermordet.6
Nachdem die Rote Armee im Winter 1941/42 den Vormarsch der Wehrmacht gestoppt hatte und zur Gegenoffensive übergegangen war, erwiesen sich anfängliche Pläne der NS-Führung, die jüdische Bevölkerung des deutsch beherrschten Europas in besetzte sowjetische Gebiete abzuschieben, zusehends als unrealistisch.7 Dennoch hatte das Reichssicherheitshauptamt im Oktober 1941 50.000 Jüdinnen und Juden aus dem Reichsgebiet sowie 25.000 aus dem Protektorat Böhmen und Mähren deportieren lassen. Sie wurden in das sogenannte Reichskommissariat Ostland gebracht, das aus dem Baltikum und Teilen Weißrusslands bestand.8 Aus Wien fuhren ab November 1941 die Deportationszüge nach Kaunas, Riga und Minsk.9
Zu diesem Zeitpunkt dürfte die Entscheidung, alle in Richtung Osten deportierten Menschen zu ermorden, noch nicht gefallen gewesen sein, obwohl die Einsatzgruppen bereits seit Monaten Jüdinnen und Juden exekutierten. Der Einschätzung des Holocaustforschers Christian Gerlach zufolge ordnete Adolf Hitler vermutlich erst im Dezember 1941 endgültig die Ermordung aller Jüdinnen und Juden an, derer man habhaft werden konnte. Mit dem Befehl zum systematischen Völkermord entsprach er zahlreichen in diese Richtung gehenden Forderungen aus Partei und Beamtenschaft.10 Anlass dafür gab außerdem der am 8. Dezember erfolgte Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika bzw. die drei Tage darauf erfolgte Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die USA. Obwohl es das Deutsche Reich gewesen war, das den Vereinigten Staaten aus eigener Initiative den Krieg erklärt hatte, machte Hitler hinter den USA den „jüdischen Feind“ aus.11 Nicht zuletzt war schließlich das sich abzeichnende Scheitern des Feldzugs gegen die Sowjetunion ausschlaggebend für die Erteilung des Befehls.12
Wannsee-Konferenz
Am 20. Jänner 1942 fand in Berlin die sogenannte Wannsee-Konferenz statt – eine Besprechung zwischen Vertretern des RSHA sowie Staatssekretären und Abteilungsleitern aus unterschiedlichen Ministerien, die dazu diente, die Umsetzung des Vernichtungsbefehls zu koordinieren.13 Obwohl der Entschluss zum Genozid bereits gefallen war, bedeutete die Wannsee-Konferenz einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Organisation der Vernichtung: Hier wurde aus der Strategie einer Vertreibung um jeden Preis und mit allen Mitteln eine Politik der planmäßigen, mit industriellen Methoden betriebenen Ermordung.14 Die Konferenzteilnehmer legten neben der Tötungsart – statt Erschießungen sollte nun aus Gründen der „Effektivität“ Giftgas eingesetzt werden 15 – auch detailliert fest, welcher Personenkreis ermordet werden sollte. 16
- 1) Vgl. Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 107-112.
- 2) Vgl. Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 112-121.
- 3) Vgl. Florian Freund/Bertrand Perz/Karl Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Litzmannstadt (Lódź), in: Hanno Loewy/Gerhard Schoenberner (Hg.), „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lódź 1940-1944, Wien 1990, 17–31, 23–24.
- 4) Bericht Hans Biebow an die Staatspolizeileitstelle Litzmannstadt vom 4. 3. 1942; zit. in: Gerhard Schuhman (Hg.), Nacht über Europa, Bd. 2 Die faschistische Okkupationspolitik in Polen (1939-1945), Köln 1989, 217.
- 5) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001, 25-26, 53-54
- 6) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001, 59-62.
- 7) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001, 29-30, 76.
- 8) Vgl. Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 146.
- 9) Vgl. Florian Freund/Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767-794, 775.
- 10) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001,80-81.
- 11) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001,113-114.
- 12) Vgl. Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 169.
- 13) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001, 85.
- 14) Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 173.
- 15) Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001, 150.
- 16) Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 172.