Erste Verhaftungen

Die Wiener Mariahilferstraße 1938: Ein Mann wird gezwungen, ein Schild mit der Aufschrift „Dieses Schwein … kauft bei Juden ein“ zu tragen. (Foto: ÖNB, Sammlung Zeitgeschichte, S 278/9)

Auf den Führungsebenen des NS-Staates wurden die anfangs noch tolerierten wilden Ausschreitungen sowie das eigenmächtige Plündern „jüdischen“ Besitzes in Wien mit wachsender Skepsis verfolgt. Ursache dafür war allerdings keineswegs Mitleid gegenüber den Opfern – vielmehr wollte man die individuellen Exzesse aus zweierlei Gründen unterbinden: Zum einen widerstrebten den Machthabenden eigenmächtige Handlungen dieser Art, da sie im Widerspruch zu der nach dem „Führerprinzip“ ausgerichteten nationalsozialistischen Herrschaftsform standen. Zum anderen war man auch aus ökonomischen Gründen bestrebt, persönliche Bereicherungen einzudämmen. Entsprechend waren die höheren Entscheidungsträger bemüht, die Verfolgung, Diskriminierung und Beraubung zu systematisieren und zu steuern.1 Außerdem hatten die antisemitischen Ausschreitungen unter anderem in den USA für öffentliche Entrüstung und negative Presse gesorgt,2 was dem Deutschen Reich außenpolitischen ungelegen kam.

Die ersten Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung waren mehrheitlich individuell von lokalen Parteifunktionären oder AnhängerInnen der NSDAP initiiert worden. Weisungen von oben hatte es dazu nicht extra bedurft. Doch auch staatliche Stellen beteiligten sich ebenso an der Verfolgung. Nach den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ begann rasch eine systematische Verfolgung, die den eigenmächtigen Straßenterror sukzessive ersetzte.

Der erste Schlag der staatlichen Verfolgungsmaschinerie richtete sich vor allem gegen politische GegnerInnen – gegen RepräsentantInnen des Austrofaschismus ebenso wie gegen SozialdemokratInnen und KommunistInnen. Bevorzugte Ziele waren politisch aktive Jüdinnen und Juden in den Reihen des linken Untergrundes, die nun in den Einflussbereich von Polizei, SD, SS und Gestapo gerieten.3 Prominente Verfolgte waren in diesem Zusammenhang der ehemalige sozialdemokratische Finanzstadtrat von Wien, Robert Danneberg, sowie die Frauenaktivistin und Mitarbeiterin der Arbeiterkammer Käthe Leichter. Beide wurden in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet.

Bereits im März 1938 hatte die Gestapo4 Wien im Hotel Metropol am Morzinplatz ihr Hauptquartier eröffnet.5 Innerhalb eines Jahres entstand hier die größte Gestapo-Leitstelle des gesamten Deutschen Reiches.6 Verhaftungen durch die Gestapo wurden in der Regel unter dem Titel der polizeilichen „Schutzhaft“ vollzogen.

Die Geheime Staatspolizei war ein Kernelement des NS-Terrors. Im Bild die Sonnwendfeier der Wiener Gestapo 1938 auf dem Cobenzl. Zu den angetretenen Gestapo-Angehörigen spricht Erich Naumann, der später als Kommandant der Einsatzgruppe B für den Massenmord im rückwärtigen Gebiet der Ostfront verantwortlich war. Er wurde 1951 als Kriegsverbrecher hingerichtet. (Foto: ONB, Sammlung Zeitgeschichte, S 45/47)

 

Diese Art der Polizeimaßnahme unterlag keinerlei richterlicher Kontrolle und gegen sie waren keine Rechtsmittel möglich.7 Rechtliche Grundlage dafür war die im Deutschen Reich am 28. Februar 1933 erlassene Verordnung zum Schutz von Volk und Staat.8 Da der Gesetzestext keinerlei konkrete Tatvoraussetzungen zur Verhängung der Schutzhaft erforderte, war es der Gestapo möglich, unliebsame Personen willkürlich und auf unbestimmte Zeit in Haft zu nehmen.9 Die festgenommenen Personen wurden erkennungsdienstlich in Karteikarten erfasst, welche unter anderem die Fingerabdrücke und dreiteilige Fotoporträts 10 der Verfolgten enthielten.11 Mindestens 15 jüdische BewohnerInnen der Wieden wurden von 1938 bis 1944 aus unterschiedlichen Gründen von der Gestapo in dieser Form erfasst; so etwa der 1878 geborene Leopold Blechner aus der Floragasse, der beschuldigt wurde, sich als „Arier“ „getarnt“ zu haben,12 oder der in der Taubstummengasse lebende 40-jährige Paul Spielmann, der verdächtigt wurde, „staatsfeindliche Äußerungen“ gemacht zu haben.13 – üblicherweise war damit der Versuch einer illegalen Ausreise gemeint – von der Gestapo verhaftet.

 

Der „Prominententransport“ am 1. April 1938

Am 1. April 1938 wurden mit dem sogenannten „Prominententransport“ erstmals 151 Österreicher – ausschließlich Männer – in das KZ Dachau eingeliefert. Ein Drittel der Häftlinge waren Funktionäre des Austrofaschismus, etwa der Wiener Bürgermeister Richard Schmitz, der vormalige Propagandaleiter der Vaterländischen Front und spätere ÖVP-Vizekanzler Fritz Bock sowie die beiden späteren Bundeskanzler Leopold Figl und Alfons Gorbach. Unter den etwa 100 weiteren Häftlingen befanden sich Sozialdemokraten – neben Danneberg auch der Stabschef des Republikanischen Schutzbundes Alexander Eifler –, Kommunisten – wie Ludwig Soswinski –, vereinzelte Monarchisten und 63 Juden. Zu letzterer Gruppe zählten der Präsident der Kultusgemeinde Desider Friedmann, der Kabarettist Fritz Grünbaum und der Autor Heinrich Jacob. Bereits während des vom Wiener Westbahnhof abgehenden Transportes wurden Häftlinge von der SS-Wachmannschaft misshandelt.14

Zu diesem Zeitpunkt war es grundsätzlich noch möglich, aus Konzentrationslagern entlassen zu werden. Bedingung für jüdische Häftlinge war dafür jedoch eine verpflichtende Ausreise aus dem Deutschen Reich, unter Vorlage der Einreisegenehmigung des Aufnahmelandes.15

 

Einer der ersten jüdischen Verhafteten, den die Gestapo mit dem „Prominententransport“ nach Dachau überstellen ließ, war der Wiedner Antiquitätenhändler Karl Ferdinand Mayer. Der am 28. Juli 1891 in London geborene Mayer lebte seit seinem dritten Lebensjahr in Wien. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung durch die Gestapo im März 1938 wohnte er gemeinsam mit seiner Frau Rosa Mayer in der Heumühlgasse. Im Juli 1938 bat seine Frau im Namen ihres Mannes die IKG Wien um Unterstützung bei einer Ausreise in die USA. Trotz der Bemühungen gelang es jedoch nicht, eine Einreisegenehmigung für ein mögliches Exilland zu erwirken.16 Am 23. September 1938 wurde Karl Ferdinand Mayer in das KZ Buchenwald überstellt, von wo er am 14. Februar 1939 in Richtung Wien entlassen wurde.17 Vier Wochen später flüchtete Mayer nach London, wo er ein Jahr nach Kriegsende, am 25. April 1946 an Herzversagen und Trombose starb.18 Im Jahr 1956 schilderte Rosa Mayer die Haftbedingungen ihres Mannes, die zu dessen frühem Tod entscheidend beigetragen haben dürften:

„Er musste schwere Arbeiten bei Steinbrüchen, Straßenbauten, Kanälen etc. bei größter Kälte in sommerlicher Bekleidung verrichten. So kam es, dass er an Hand und Fuß Erfrierungen erlitten hat und die offenen Wunden durch die schmutzigen Arbeiten zu schweren Blutvergiftungen führten. […] In diesem Zustand hat er weitergearbeitet u. blieb wie durch ein Wunder am Leben.“19

Nachdem zahlreiche Jüdinnen und Juden – vor allem Männer – bereits im März und April 1938 verhaftet worden waren, kam es im Mai zu weiteren 2.000 Festnahmen.20 Ziel dieser Massenverhaftungen waren in erste Linie junge Intellektuelle, Ärztinnen und Ärzte, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Wiederum folgten Transporte nach Dachau, wieder wurden diese begleitet von schweren Misshandlungen.21 Insgesamt wurden von Mai bis Juni 1938 auf Anordnung der Gestapo 5.000 männliche Juden aus Österreich in das KZ Dachau deportiert.22 Wie schon in den Wochen nach dem „Anschluss“ stieg daraufhin erneut die Selbstmordrate dramatisch an.23

Auch der am 29. Dezember 1903 in Lemberg geborene selbstständige Juwelier Klemens Molkner von der Wieden wurde am 28. Mai 1938 in Schutzhaft genommen und wenig später nach Dachau eingeliefert. Im September 1938 wurde er in das KZ Buchenwald überstellt, wo er bis April 1939 interniert war.24 Ein ähnliches Schicksal erlitt der ebenfalls im vierten Bezirk wohnhafte und am 9. September 1903 geborene Zahntechniker Franz Adolf Heller. Wie schon zuvor Bruno Kreisky wurde der gebürtige Wiener am 27. Mai 1938 in der Karajangasse inhaftiert, drei Tage darauf nach Dachau deportiert und am 24. September desselben Jahres nach Buchenwald überstellt. Erst am 10. Juli 1939 wurde er aufgrund einer bezüglich seiner Ausreise von den US-Behörden anberaumten Untersuchung freigelassen. Als einem der letzten Wiener Juden gelang ihm Ende April 1940 die Flucht; über Italien erreichte er die USA.25

 

Matthias Kamleitner

  1. 1) Florian Freund/Hans  Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch,  Wien 2000, 767-794, 768.
  2. 2) Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008, 133.
  3. 3) Florian Freund/Hans  Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch,  Wien 2000, 767-794, 724
  4. 4) Die Gestapo war in erster Linie für staatsfeindliche Angelegenheiten (d.h. die Überwachung politischer Gegner) verantwortlich und unterstand als Teil der Sicherheitspolizei dem RSHA in Berlin.
  5. 5) Franz Weisz, Das Hauptquartier der Wiener Gestapo – das Haus am Morzinplatz Nr. 4, in: Ferdinand Oppl/Karl Fischer (Hg.), Studien zur Wiener Stadtgeschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien,  Bd. 51, Wien 1995, 243-264, 245.
  6. 6) Vgl. Thomas Mang, „Gestapo-Leitstelle Wien – Mein Name ist Huber“. Wer trug die lokale Verantwortung für den Mord an den Juden Wiens?, Wien, 2003, 12.
  7. 7)   Carsten Dams/Michael Göbl/Eva Saibel, Die Wiener Bezirke. Ihre Geschichte – Ihre Persönlichkeiten – Ihre Wappen,  Wien 2003, 70.
  8. 8) Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg, 23-24.
  9. 9) Vgl. Klaus Drobisch/Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 1993, 27-28.
  10. 10) Mit erkennungsdienstlich angefertigten Fotografien von Opfern des Nationalsozialismus befasste sich zuletzt eingehend Lukas Meissel im Rahmen seiner Masterarbeit. Vgl. Lukas Meissel, „Mauthausen im Bild“. Fotografien der Lager-SS. Entstehung – Motive – Deutungen, Masterarbeit, Wien 2015.
  11. 11) Vgl. Brigitte Bailer/Elisabeth Boeckl-Klamper/Wolfgang Neugebauer/Thomas Mang, Die Gestapo als zentrales Instrument des NS-Terrors, in:DÖW (Hg.), Opferschicksale. Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus, Wien 2013, 163-190, 169,170.
  12. 12)   Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Leopold Blechner, 8. 4. 2015).
  13. 13) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Paul Spielmann, 11. 3. 2015). Der 42-jährige Alexander Waldberg aus der Theresianumgasse wurde wegen eines angeblichen „Passvergehens“[fn]  Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Alexander Waldberg, 20. 11. 2015) 
  14. 14) Vgl. Neugebauer/Schwarz, Stacheldraht, mit Tod geladen, 5–40.
  15. 15) Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Stacheldraht, mit Tod geladen. Der erste Österreichtransport in das KZ Dachau, Wien 2008, 5-40.
  16. 16)   Vgl. Der erste Transport nach Dachau aus Wien, DÖW, URL: http://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/der-erste-dachau-transport-aus-wien-1-april-1938 (12. 5. 2014); Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 95, AFB-Nr. 37886 (Karl Ferdinand Mayer).
  17. 17) Vgl. Email vom Archiv der Gedenkstätte Buchenwald an Matthias Kamleitner, 15. 6. 2015.
  18. 18) Vgl. ÖStA, AdR, EuRANG, Hilfsfonds, Alter Hilfsfonds 1095. (Rosa Mayer).
  19. 19) Vgl. ÖStA, AdR, EuRANG, Hilfsfonds, Alter Hilfsfonds 1095. (Rosa Mayer).
  20. 20) Wolfgang Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938. Eine Dokumentation, Wien 1988, 85-92, 89
  21. 21) Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945, Wien 1978, 86-87.
  22. 22)   Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945, der Weg zum Judenrat, Franfurt/Main, 2000, 91.
  23. 23) Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945, Wien 1978, 86-87.
  24. 24) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 156, AFB-Nr. 14978 (Clemens Molkner).
  25. 25) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 90, AFB-Nr. 19782 (Franz Heller).

Vom "Anschluss" zum Holocaust