Auch Großbritannien reagierte auf die steigenden Flüchtlingszahlen im März und April 1938 mit einer Visapflicht für BürgerInnen des Deutschen Reichs. Wie in anderen Staaten war die restriktive Einwanderungspolitik mitbedingt durch die Sorge um steigende Arbeitslosenzahlen und verstärkte Belastungen des Staatshaushaltes. Angehörigen bestimmter Berufszweige – Gewerbetreibende, HandwerkerInnen, VertreterInnen und kommerzielle KünstlerInnen – blieb die Einreise grundsätzlich verwehrt. Leichter hatten es „renommierte Persönlichkeiten der Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie Industrielle mit etablierten Firmen“.1 Neben dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud fanden etwa auch der Ökonom Karl Ausch, der einstige Chefredakteur der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung, Oscar Pollak, sowie der Literat Elias Canetti auf den britischen Inseln Zuflucht.
Die Novemberpogrome im Deutschen Reich lösten im Vereinigten Königreich öffentliches Entsetzen aus und veranlassten die Regierung dazu, ihre Einreisekriterien vorübergehend noch einmal zu lockern. Man ließ nun insbesondere diejenigen passieren, die lediglich durchreisen wollten, und gestattete darüber hinaus im Rahmen der sogenannten Kindertransporte die Aufnahme von 10.000 Kindern und Jugendlichen im Land. 2
Der Zugang zum Arbeitsmarkt war deutschen Flüchtlingen in Großbritannien zunächst untersagt – ausgenommen waren nur HausgehilfInnen. Wie in Frankreich wurden auch hier alle volljährigen ExilantInnen nach Kriegsbeginn zu enemy aliens erklärt und interniert. Zugleich wurden bereits ausgestellte Visa, deren InhaberInnen noch nicht britischen Boden erreicht hatten, für ungültig erklärt. Von nun an war Flüchtlingen der Weg nach Großbritannien weitestgehend verwehrt. 3
Ab Juli 1940 änderte die britische Regierung ihre Haltung gegenüber den im Land befindlichen Flüchtlingen. Nun kam es zu Enthaftungen sowie zu einer schrittweisen Integration in die britische Gesellschaft und in das Wirtschaftsleben. Kriegsbedingt standen nun auch deutlich mehr Arbeitsplätze zur Verfügung als zuvor. 4
Zum Beispiel: Ilse Römer
Zu den nach Großbritannien geflüchteten WiednerInnen zählte auch die Germanistikstudentin Ilse Maria Römer aus der Seisgasse. Sie und ihre Familie waren ein klassisches Beispiel für „jüdische“ Verfolgte, die sich selbst überhaupt nicht als „jüdisch“ betrachteten und gewissermaßen erst durch die Nationalsozialisten zu „Juden“ bzw. „Jüdinnen“ gemacht wurden. Ihrem Religionsbekenntnis nach war Ilse Römer evangelisch, verfolgt wurde sie nach den Kriterien der Nürnberger Rassegesetze aufgrund ihrer jüdischen Großeltern. Nach dem „Anschluss“ durfte sie die Universität plötzlich nicht mehr betreten, ihre persönlichen Unterlagen musste sie zurücklassen.5
Im März 1939 gelang ihr die Ausreise nach Großbritannien, nachdem sich ein englischer Pfarrer bereit erklärt hatte, sie aufzunehmen und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.6 Daraufhin nahm die 19-Jährige am Wiener Westbahnhof Abschied von ihren Eltern, deren Fluchtversuch nach England im darauffolgenden September scheiterte.7 „Als es dann für meine Eltern begonnen hat, als sie in die Massenwohnung in der Werdertorgasse kamen,“ – so die später verheiratete Ilse Aschner rückblickend – „war ich schon weg. Sie haben es mir nicht mehr erzählen können.“8 Im Juni 1942 wurden Ilse Aschners Eltern in das Ghetto Riga deportiert, wo ihr Vater Gustav Aschner starb. Wenige Monate vor dem Kriegsende in Europa wurde im Jänner 1945 auch Mutter Paula Aschner im KZ Stutthof ermordet.9
MATTHIAS KAMLEITNER
- 1) Vgl. Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien 1992, 5-6.
- 2) Vgl. Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien 1992, 5-6.
- 3) Vgl. Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien 1992, 7, 50-59.
- 4) Vgl. Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien 1992, 61-62.
- 5) Vgl. Doris Ingrisch/Gert Dressel/Herbert Posch, 1938 ff., in: Doris Ingrisch/Gert Dressel/Herbert Posch (Hg.), „Anschluß“ und Ausschluss 1938, 199–260, 201; Doris Ingrisch/Herbert Posch, Ilse Maria Aschner (geb. Römer), Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=2175 (16. 5. 2015).
- 6) Vgl. Video der Zeitzeugin Frau Aschner, URL: http:// http://www.erinnern.at (16. 5. 2015).
- 7) Vgl. Video der Zeitzeugin Frau Aschner, URL: http:// http://www.erinnern.at (16. 5. 2015).
- 8) Josef Haslinger, Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich, Darmstadt 1987, 90.
- 9) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Gustav und Paula Römer, 27. 2. 2015).