Fluchtland: Palästina

Jedudith Hübner

Jedudith Hübner nach ihrer Flucht in Jerusalem. (Foto: Jehudith Hübner/erinnern.at)

Nach dem Ersten Weltkrieg war das ehemals unter osmanischer Herrschaft stehende Palästina vom Völkerbund in britische Kontrolle übergeben worden. Ursprünglich war damit der ausdrückliche Auftrag verbunden gewesen, „unter Wahrung der Rechte der Einheimischen“ den Aufbau eines jüdischen Staates zu begleiten und zu fördern. Während des Krieges hatten die Briten sich in der Balfour-Deklaration von 1917 hinter dieses Ziel gestellt, zugleich aber auch arabischen Führern Zusagen für einen unabhängigen Staat gemacht. Als 1936 eine arabische Rebellion gegen die – aufgrund der Verfolgung durch das NS-Regime stark gestiegene – jüdische Zuwanderung losbrach, wurde sie von der britischen Armee rigoros unterdrückt. Auf den militärischen Sieg der Briten folgten allerdings politische Zugeständnisse an die Aufständischen: Die englischen Mandatsbehörden verpflichteten sich 1939, die jüdische Zuwanderung nach Palästina innerhalb der folgenden fünf Jahre auf nicht über 75.000 Menschen steigen zu lassen. Diese in einem sogenannten Weißbuch festgelegte Politik sorgte jedoch kaum für Beruhigung zwischen jüdischen und arabischen Bevölkerungsteilen im Mandatsgebiet: Während sich die jüdische Seite über die Reduktion der Einwanderung empört zeigte, wurden von arabischer Seite Stimmen laut, die dafür plädierten, diese gänzlich zu stoppen.1 Die jüdische Siedlerselbstverwaltung, der Yishuv, reagierte letztlich mit einer Intensivierung des Ausbaus von Siedlungen.2

Um die Flucht aus Wien nach Palästina bewerkstelligen zu können, arbeitete die Israelitische Kultusgemeinde mit verschiedenen zionistischen Organisationen zusammen.3 Besonders wichtig waren in diesem Zusammenhang die zionistischen Jugendorganisationen.4

Sie verhalfen jugendlichen Palästina-Pionieren nicht nur zur Flucht, sondern bereiteten diese in eigenen Ausbildungslagern auf ihr künftiges Leben vor. Die Jugendlichen bekamen praktisches (vor allem: landwirtschaftliches) Wissen und handwerkliche Fähigkeiten vermittelt, welche ihnen die Aufbauarbeit erleichtern sollten. Über die Jugendorganisationen wurden die Flüchtlinge, sobald sie Palästina einmal erreicht hatten, weitervermittelt. Sie gelangten in Kibbuze, Jugendheime und Siedlungen, in denen sie für Jahre, oft Jahrzehnte blieben.5

 

Zum Beispiel: Jessie Winkler (Jehudith Hübner)

Mit der Jugend-Alija gelangte im November 1939 die 18-jährige Schülerin Jessie Winkler auf legalem Wege nach Palästina.6 Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Edith hatte sie 1938 in der Rittergasse gelebt.7 Jessie Winkler überlebte als einziges Mitglied ihrer Familie den Holocaust. Während ihr Vater im Jänner 1940 im KZ Buchenwald ermordet wurde, verlieren sich die Spuren von Mutter und Schwester im Ghetto Litzmannstadt, in das die beiden im Oktober 1940 deportiert worden waren.8 Unter ihrem späteren Namen Jehudith Hübner wurde Jessie Winkler später unter anderem Botschafterin Israels in Norwegen und Vizebürgermeisterin von Jerusalem.9

 

Insgesamt blieb die Einreise in das britische Mandatsgebiet jedoch nur wenigen, insbesondere jungen Menschen vorbehalten. Die relativ geringe Zahl von Einreisegenehmigungen sorgte auch für Konflikte um die Platzvergabe zwischen jüdischen Vereinen in Wien. Schlussendlich versuchten sich viele Flüchtlinge auf illegalem Wege nach Palästina durchzuschlagen. Adolf Eichmann war anfänglich skeptisch, billigte schlussendlich jedoch auch die illegale Form der Auswanderung.10

Nach ihrer Ankunft hatten viele der Neuankömmlinge mit finanzieller Mittellosigkeit und Sprachbarrieren zu kämpfen. Hebräisch beherrschten sie – wenn überhaupt – meist nur ansatzweise, zugleich waren Deutsch und Jiddisch verpönte Sprachen. Auch die neuen klimatischen Verhältnisse, die spartanische Unterbringung und die harte Feldarbeit in den Siedlungen bedeuteten eine erhebliche Umstellung. 11 Hinzu kamen sich häufende Angriffe arabischer Milizen auf jüdische Institutionen und Siedlungen.12

 

Zum Beispiel: Gerhard Bronner

Nachdem Italien, Jugoslawien und Griechenland keine Transit-Visa für Flüchtlinge mehr ausstellten und damit die Durchreise verhinderten, erlangte die Donau als Fluchtroute stärkere Bedeutung. Sie galt als internationales Gewässer – auf Schiffen ließ sich daher das Schwarze Meer auch ohne Visum erreichen.13 Auf diese Weise gelangte 1938 auch der 15-jährige Gerhard Bronner illegal nach Palästina.14 Er hatte mit seinen beiden älteren Brüdern Emil und Oskar und ihren Eltern Jakob und Rosa Bronner die ersten Jahre seines Lebens in Favoriten verbracht, bevor die Familie 1927 in die Mommsengasse auf der Wieden übersiedelt war.15 Diese lag näher zum Handwerksbetrieb, den Jakob Bronner als Tapeziermeister am Wiedner Gürtel besaß.16 Die ganze Familie war sozialdemokratisch engagiert – Emil Bronner fiel als Schutzbündler in den Februarkämpfen 193417 gefallen. Nach dem „Anschluss“ sah sich auch Jakob Bronner mit Begehrlichkeiten potentieller „Ariseure“ konfrontiert, ließ sich davon zunächst aber nicht beirren. Michael Bittner, ein 58-jähriges NSDAP-Mitglied, dem Bronner sein Geschäft nicht überlassen wollte, wandte sich im November 1938 zornig an die für „Arisierungen“ zuständige Vermögensverkehrsstelle und beschwerte sich über Bronner.18 Auf Dauer hatten die Bronners keine Chance: Nachdem Vater Jakob und Sohn Oskar Bronner in das KZ Dachau verschleppt worden waren, wurden sie ihres Geschäfts, später auch ihrer Wohnung beraubt. Während Oskar Bronner die KZ-Haft nicht überlebte, entließ man seinen Vater nach einiger Zeit wieder. Sein Sohn Gerhard, der zu diesem Zeitpunkt eine Lehre als Schaufensterdekorateur absolvierte, floh zunächst über die „grüne Grenze“ in die Tschechoslowakei. Dort hielt er sich in Brünn/Brno mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, wurde jedoch im Herbst 1938 wieder ausgewiesen. Daraufhin erreichte er auf einem Schiff über die Donau das Schwarze Meer und reiste von Konstanza aus mit der Draga, einem Frachter, weiter. Auf dem Schiff befanden sich insgesamt 4.500 Flüchtlinge – zumeist aus Österreich –, die schließlich wohlbehalten Palästina erreichten. .19 Bronners Eltern bemühten sich derweil vergebens, ein Land zu finden, das sie aufnahm. Rosa und Jakob Bronner wurden zunächst gezwungen, in eine „Sammelwohnung“ in der Franz-Hochedlinger-Gasse im zweiten Bezirk umzuziehen, und wurden im Mai 1942 ins Vernichtungslager Maly Trostinec deportiert und ermordet.20 Ihr Sohn Gerhard Bronner, der als einziges Mitglied der Familie die NS-Verfolgung überlebte, wurde einer der bekanntesten und beliebtesten Kabarettisten der Zweiten Republik. Er starb 2007 hoch geehrt in Wien. Sein ältester Sohn Oscar, der noch im Exil in Haifa geboren wurde, gründete 1970 das Nachrichtenmagazin Profil und 1988 die Tageszeitung Der Standard, die er noch heute herausgibt.

MATTHIAS KAMLEITNER

  1. 1) Vgl. Elmar Krautkrämer, Krieg ohne Ende? Israel und die Palästinenser – Geschichte eines Konflikts, Darmstadt 2003, 37
  2. 2) Vgl. Yechiam Weitz, Die jüdische Gemeinde in Palästina („Vishuv“) 1939–1948, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 131–154, 141.
  3. 3) Vgl. Doron Rabinovici, Die Suche nach dem Ausweg. Die Organisation von Flucht und Rettung 1938-1941, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 99-128, 104-105
  4. 4) Vgl. Peter Schwarz/Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938–1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817–849, 835.
  5. 5) Vgl. Doron Rabinovici, Die Suche nach dem Ausweg. Die Organisation von Flucht und Rettung 1938-1941, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 99-128, 104; Ari Rath, Von Wien nach Palästina. Ein ruhmreiches, unbeachtetes Epos, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 155-190, 157.
  6. 6) Vgl. Video Jehudith Hübner, URL: http://www.neue-heimat-israel.at/home/jehudith-huebner (31. 8. 2015).
  7. 7) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 266, AFB-Nr. 14377 (Filipp Winkler).
  8. 8) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Philipp, Mania und Edith Margit Winkler, 18. 4. 2015).
  9. 9) Vgl. Ari Rath, Von Wien nach Palästina. Ein ruhmreiches, unbeachtetes Epos, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 155-190, 178.
  10. 10) Vgl. Doron Rabinovici, Die Suche nach dem Ausweg. Die Organisation von Flucht und Rettung 1938-1941, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 99-128,104; Ari Rath, Von Wien nach Palästina. Ein ruhmreiches, unbeachtetes Epos, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 155-190, 105-115.
  11. 11) Vgl. Brigitte Halbmayr, Emigration – Flucht – Vertreibung. Migrationsbewegungen österreichischer Jüdinnen und Juden nach Palästina 1934-1945, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 29-98, 82-83.
  12. 12) Vgl. Elmar Krautkrämer, Krieg ohne Ende? Israel und die Palästinenser – Geschichte eines Konflikts, Darmstadt 2003, 35.
  13. 13) Vgl. Ari Rath, Von Wien nach Palästina. Ein ruhmreiches, unbeachtetes Epos, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 155-190, 117, 167-168; Doron Rabinovici, Die Suche nach dem Ausweg. Die Organisation von Flucht und Rettung 1938-1941, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 99-128, 104.
  14. 14) Gerhard Bronner, Spiegel vorm Gesicht. Erinnerungen, München 2004, 57-74
  15. 15) Vgl. WStLA, Meldeanfrage, MA 8 – B-MEW-722246/2015, 15. 9. 2015.
  16. 16) In Lehmanns Adressbuch aus 1938 scheint Jakob Bronners Geschäft als Modewarenbetrieb auf. Vgl. Wiener Adreßbuch. Lehmanns Wohnungsanzeiger 79 (1938), Band 2, 266.
  17. 17) Die Februarkämpfe des Jahres 1934 waren eine militärische Auseinandersetzung zwischen dem Republikanischen Schutzbund (der Wehrformation der SDAP) und den aufseiten der austrofaschistischen Regierung kämpfenden Kräften (den paramilitärische Heimwehren, der Polizei und dem Militär). Den Kämpfen war die durch die austrofaschistische Regierung herbeigeführte Ausschaltung demokratischer Institutionen wie dem Parlament und des Verfassungsgerichtshofs vorausgegangen, sowie das Verbot mehrerer politischer Parteien und des Republikanischen Schutzbundes. Nach den Februarkämpfen wurde auch die SDAP verboten. Zahlreiche ihrer Mitglieder wurden inhaftiert und/oder in Anhaltelager eingewiesen. Einige der Februarkämpfer wurden hingerichtet.
  18. 18) Vgl. ÖStA, AdR, EuRANG, VVSt, Statistik, 1427 (Jakob Bronner).
  19. 19) Vgl. Gerhard Bronner, Spiegel vorm Gesicht. Erinnerungen, München 2004, 70-72.
  20. 20) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Jakob und Rosa Bronner, 22. 7. 2015).

Flucht & Vertreibung