Bereits in den ersten Tagen nach dem „Anschluss“ bildeten sich in Wien vor Botschaften und Konsulaten Schlangen von Menschen, die hofften, eine Einreisegenehmigung zu erhalten. Dafür waren die Betroffenen bereit, wie sich der Wiener Holocaustüberlebende und Historiker Herbert Rosenkranz später erinnerte, „in häuserblocklangen Reihen zu Hunderten und Tausenden sich nachts und tags anzustellen, trotz der Gefahr der Gasse: die Wehrlosen wurden oft von Uniformierten überfallen und auseinandergetrieben, oder im Laufschritt von einer Straßenseite zur anderen und um Häuserblocks derart gejagt, daß die letzten als erste zu stehen kamen, und die Nachtwache vieler vergeudet war.“1
Selbst Betroffene, die mit viel Glück nach langen Stunden des Wartens endlich in den Botschaften vorgelassen wurden, waren noch mit massiven Schwierigkeiten konfrontiert. So verschärfte eine Reihe von Staaten mit dem Ansteigen der Flüchtlingszahlen ihre Einreise- und Aufenthaltsbedingungen und knüpfte diese an Visa, Bürgschaftserklärungen und eine Reihe weiterer bürokratischer Formalitäten.
Ein wesentlicher Grund für die ablehnende Haltung potentieller Aufnahmeländer bestand in der – durch die Ausreisevorgaben des NS-Staates verursachten – Mittellosigkeit der flüchtenden Menschen. Verarmte ImmigrantInnen bargen die Gefahr, dass diese womöglich von der öffentlichen Fürsorge erhalten werden mussten – und dieses Risiko wollten die meisten Staaten nicht auf sich nehmen.2 Hinzu kamen vielerorts Sorgen vor einem Anschwellen des Antisemitismus infolge der Einwanderung von Jüdinnen und Juden, aber auch eigene antisemitische Vorurteile der Verantwortlichen innerhalb des Staatsapparates.
Um eine internationale Lösung der Flüchtlingsproblematik zu erzielen, fand im Juli 1938 auf Initiative des us-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt eine Flüchtlingskonferenz im französischen Evian statt. Weil die teilnehmenden Staaten aus innen- und wirtschaftspolitischen Beweggründen bei ihrer ablehnenden Haltung blieben, endete der Gipfel jedoch ergebnislos.3 Erst die Novemberpogrome 1938 sorgten etwa in den USA für ein teilweises Umdenken und für eine erhöhte Aufnahmebereitschaft gegenüber den Verfolgten.4
- 1) Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945, Wien 1978, 55.
- 2) Susanne Heim, Einleitung, in: Susanne Heim/Götz Aly (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 2, München 2009, 13-64, 43.
- 3) Susanne Heim, Einleitung, in: Susanne Heim/Götz Aly (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 2, München 2009, 13-64, 46-47.
- 4) Herbert A. Strauss, Essays on the History, Persecution and Emigration of German Jews. Jewish Immigrants of the Nazi Period in the USA, Volume 6, New York u. a. 1987, 209.