Bis Kriegsende hatten in Wien von der einst blühenden jüdischen Gemeinde noch knapp 5.100 Menschen – insbesondere in sogenannten „Mischehen“ mit „arischen“ Ehepartnern. – überlebt.1 Abgesehen von denjenigen, die durch ihre Ehe mit „ArierInnen“ vor Deportationen geschützt waren, konnten einige wenige Betroffene auch bleiben, weil sie erfolgreich als sogenannte U-Boote innerhalb des Deutschen Reiches und dessen Einflusssphären untertauchen konnten. Grundsätzlich standen zwei Wege in die Illegalität offen: Sich entweder an einem Ort zu verstecken, der den Behörden unbekannt war, oder durch gefälschte Dokumente die eigene Identität zu verschleiern und durch eine falsche zu ersetzen. Die erste Variante – das Verlassen der eigenen Wohnung zugunsten eines neuen Quartiers – erforderte zwar weniger Vorbereitung, war jedoch mittel- und langfristig die wesentlich schwierigere und riskantere Option: Bei Abschluss eines legalen Mietvertrages mussten Dokumente vorgelegt werden, wodurch die jüdische Herkunft vor den VermieterInnen kaum verheimlicht werden konnte. Entweder waren die VermieterInnen also eingeweiht, oder man wurde von „ArierInnen“ in deren Wohnung versteckt. In beiden Fällen waren die Betroffenen stets dem Risiko ausgesetzt, von aufmerksamen NachbarInnen angezeigt zu werden. Alltägliche Schwierigkeiten bereiteten die Frage nach dem Unterhalt, wie man – nach der kriegsbedingten Rationierung und Einführung von Lebensmittelkarten – an Essbares herankommen konnte, was im Fall von Krankheit oder Unfall getan werden konnte und so weiter. Für unter falschen Namen lebende Menschen stellte sich zunächst das Problem, eine passende Identität zu finden und an entsprechende gefälschte Papiere zu kommen. Ab diesem Zeitpunkt bestand die größte Gefahr darin, dass entweder die Dokumente als falsch erkannt wurden, oder darin, auf der Straße von jemandem aus dem früheren, legalen Leben erkannt zu werden. In beiden Fällen erforderte das Untertauchen fast immer die Hilfe von „Nichtjüdinnen“ und „Nichtjuden“, die damit ebenfalls ihr Leben aufs Spiel setzten. Angesichts eines dichten bürokratischen Netzes, eines ausgefeilten Überwachungssystems und des permanenten Risikos entdeckt zu werden, bedeutete das Leben in der Illegalität eine enorme psychische Belastung.2 Nach derzeitigem Forschungsstand überlebten in Österreich von 1938 bis 1945 nur zwischen 500 und 600 Jüdinnen und Juden als U-Boote.3 Der größte Teil hielt sich in Wien versteckt.4
Zum Beispiel: Karl Motesiczky
Untergetauchte jüdische Verfolgte bei sich zu verstecken, war mit einem erheblichen persönlichen Risiko verbunden. Wer dabei erwischt wurde, musste mit der Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen.
Aufgrund seiner Hilfe für Verfolgte wurde der Medizinstudent Karl Motesiczky im Oktober 1942 von der Gestapo verhaftet. Er war 1904 in eine wohlhabende protestantische Bankiersfamilie hineingeboren worden, seine Mutter Henriette Motesiczky galt nach den Nürnberger Gesetzen des NS-Regimes jedoch als Jüdin.5
Karl und seine 1906 geborene Schwester Marie-Louise Motesiczky galten daher nach NS-Kriterien als „Mischlinge I. Grades“. Nach seiner Matura war Karl Motesiczky in den 1920er- und 1930er-Jahren in der Weimarer Republik für die Kommunistische Partei aktiv gewesen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten floh er zunächst nach Österreich, verließ das Land wegen der Machtübernahme des Austrofaschismus aber bald wieder und lebte eine Zeitlang in Skandinavien, wo er sich unter anderem am Aufbau der sexualpolitischen Sexpol-Bewegung beteiligte. Im Jahr 1937 kehrte er schließlich nach Österreich zurück. Nach dem „Anschluss“ flohen seine Mutter und seine Schwester über die Niederlande nach Großbritannien, während Karl Motesiczky in Österreich blieb.6 Er wohnte zunächst am Brahmsplatz,7 später in der Operngasse8 und bemühte sich auf unterschiedliche Weise, verfolgten Mitmenschen zu helfen: Vor allem stellte er das Anwesen seiner Familie in Hinterbrühl Untergetauchten als Zuflucht zur Verfügung. Gemeinsam mit anderen versuchte er im September 1942 außerdem, zwei jüdischen Ehepaaren die Flucht in die Schweiz zu ermöglichen, was jedoch am Verrat eines Mittelsmannes an die Gestapo scheiterte. An der Grenze zur Schweiz in Feldkirch (Vorarlberg) wurden Flüchtlinge und Fluchthelfer verhaftet und nach Wien ins Gestapo-Hauptquartier im Hotel Metropol überstellt. Nach vorübergehender Freilassung wurde Motesiczky am 13. 10. 1942 erneut verhaftet und sein gesamtes Vermögen von der Gestapo beschlagnahmt.9 Im Februar 1943 erfolgte seine Deportation in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, wo er am 25. 6. desselben Jahres ermordet wurde.10 Als einem von bisher nur etwa 100 ÖsterreicherInnen wurde Karl Motesiczky 1980 von Israel posthum als Gerechter unter den Völkern geehrt.11
Zum Beispiel: Edith Hahn
Die 1914 in Wien geborene Studentin Edith Hahn lebte 1938 gemeinsam mit ihrer Mutter Klothilde Hahn und ihren beiden jüngeren Schwestern – die 1921 geborene Johanna und die 1915 geborene Maria – im vierten Bezirk in der Argentinierstraße.12 Ihr Vater Leopold Hahn war 1936 einem Herzinfarkt erlegen. Die Familie lebte säkular und sozialdemokratisch. Ihre Eltern förderten die Bildung ihrer Tochter und stimmten der – für eine Frau damals keineswegs selbstverständlichen – Idee zu, sich an der Universität einzuschreiben. Im Jahr 1938 hatte Edith Hahn bereits ihr achtes und letztes Semester an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien erfolgreich hinter sich gebracht,13 im April 1938 wurde ihr jedoch aus rassistischen Gründen das Antreten zum abschließenden Staatsexamen untersagt.14 Während ihre Schwestern nach Großbritannien und Palästina flüchteten, blieb Edith Hahn mit ihrer Mutter in Wien, weil sie sich nicht von ihrer großen Liebe, Josef Rosenfeld, trennen wollte. Auf Druck seiner Familie beendete dieser jedoch bald die Beziehung. Im Verlauf des Jahres 1939 mussten Mutter und Tochter ihre Wohnung räumen und in den zweiten Bezirk übersiedeln. 15; Im April 1941 wurde Edith Hahn zur Zwangsarbeit ins „Altreich“ – das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 – beordert, wo sie zunächst ohne ausreichende Kleidung in der Kälte, vor allem aber auch ohne genug Nahrung auf einer Spargelplantage schuften musste. Später wurde sie einer Papierfabrik als Arbeiterin zugewiesen,16 um schließlich nach über einem Jahr wieder nach Wien rücküberstellt zu werden – zum Zweck ihrer Deportation. Kurz vor ihrer Rückkehr war bereits ihre Mutter Klothilde Hahn im Juni 1942 in das Ghetto Minsk deportiert worden, wo sie wenig später ermordet wurde.17; Als Edith Hahn davon erfuhr und es nun offensichtlich nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie selbst an die Reihe käme, beschloss sie unterzutauchen.
Bereits während der Zugfahrt nach Wien entfernte sie den gelben „Judenstern“ von ihrer Kleidung. Mit Hilfe von FreundInnen und Bekannten – darunter auch Maria Niederall, ein langjähriges NSDAP-Mitglied, und ein von ihr vermittelter SS-Mann – gelang es ihr zunächst, bei Bauern in Hainburg unterzukommen. Weil sie dort aber nicht dauerhaft bleiben konnte, begab sie sich zurück nach Wien, wo sie über einige Wochen an wechselnden Orten Aufnahme fand. In dieser Zeit verhalf ihr eine Freundin, Christine Margarethe Denner, deren Kindermädchen Edith Hahn gewesen war, zu falschen Dokumenten. Sie überließ Edith Hahn ihren Ausweis und meldete ihn der Polizei als verloren. Dennoch war das Risiko, in Wien zu bleiben und von jemandem erkannt zu werden, zu groß. Als Grete Denner18 reiste Edith Hahn deshalb nach München und meldete sich dort beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) zur Arbeit. Ihre Aufnahme in die DRK-Dienste war ein entscheidender Faktor für ihr Überleben in der Illegalität, da sie nur auf diese Weise nicht in der zentralen Arbeitskartei erfasst wurde und den Behörden daher die Existenz zweier identischer Personen nicht auffiel. Im August 1942 lernte Edith Hahn den glühenden Nationalsozialisten Werner Vetter aus Brandenburg kennen, der sich in sie verliebte. Als er ihr wenige Monate später einen Heiratsantrag machte, weihte sie ihn in ihr Geheimnis ein, denn für eine Hochzeit hätte sie einen Abstammungsnachweis benötigt. Er versprach ihr, sie nicht zu verraten. Da die Beziehung mit einem „Arier“ auch zusätzliche Sicherheit versprach, gab Edith Hahn seinem Drängen schließlich nach. Im Winter 1942 zog das Paar in die Kleinstadt Brandenburg an der Havel, wo sie in der Werksiedlung von Werner Vetters Arbeitgeber, dem Flugzeughersteller Arado, lebten.19
Im September 1943 wurde Edith Hahn schwanger. Sie war bis dahin erfolgreich einer formellen Ehe aus dem Weg gegangen, doch nun bestand Werner Vetter umso mehr auf einer Hochzeit. Edith Hahn konnte die erforderlichen Papiere nicht erbringen, aufgrund ihres angeblich „arischen Aussehens“ bestätigte allerdings ein Standesbeamter ihre zweifelsfreie „Deutschblütigkeit“. Während im April 1944 US-amerikanische Flugzeuge Brandenburg bombardierten, kam ihre Tochter Angela Hahn zur Welt.20 Kurz darauf wurde Werner Vetter, der infolge eines Arbeitsunfalls auf einem Auge erblindet war, dennoch zur Wehrmacht eingezogen und mit seinem Verband an die Ostfront geschickt. Dort geriet er rasch in Kriegsgefangenschaft und kam nach Sibirien. Nach der Einnahme Brandenburgs durch die Rote Armee zögerte Edith Hahn zunächst, ihre wahre Identität zu enthüllen. Nachdem sie diesen Schritt schließlich doch wagte, wurde sie – weil sie nicht verdächtigt wurde, der NSDAP angehört oder mit ihr sympathisiert zu haben – Richterin am Amtsgericht Brandenburg. Werner Vetter kehrte 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurück und wenig später wurde die Ehe geschieden. Ende 1948 setzte sich Edith Hahn nach England ab, nachdem der sowjetische Nachrichtendienst NKWD sie als Spitzel anzuwerben versucht hatte.21 Sie heiratete einen jüdischen Überlebenden aus Wien und wanderte schließlich nach Israel aus, wo sie sich in Netanya niederließ.22 2009 starb sie im Alter von 95 Jahren.
MATTHIAS KAMLEITNER
- 1) Vgl. Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, in: Clemens Jabloner/Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Georg Graf/Robert Knight/Lorenz Mikoletzky/Bertrand Perz/Roman Sandgruber/Karl Stuhlpfarrer/Alice Teichova (Hg.), „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, 91–240, 128.
- 2) Vgl. Brigitte Ungar-Klein, Leben im Verborgenen – Schicksale der „U-Boote“, in: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, Wien 1992, 604–609.
- 3) C. Gwyn Moser bezifferte erstmals 1985 die Gesamtzahl der in Österreich untergetauchten Jüdinnen und Juden mit mehr als 600 Personen. Vgl. C. Gwyn Moser, Jewish U-Boote in Austria, in: Simon Wiesenthal Center Annual 2 (1985), 53–62, 55. Berechnungen Jonny Mosers zufolge, waren es vergleichsweise lediglich 528 Personen. Vgl. Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, 56. Siehe auch Brigitte Ungar-Klein, „Du bleibst bei mir, jetzt und weiterhin“. Das Schicksal jüdischer „U-Boote“ und ihrer HelferInnen,, in: Historisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Frauenleben 1945 – Kriegsende in Wien, Wien 1995, 85–97, 96.
- 4) Vgl. C. Gwyn Moser, Jewish U-Boote in Austria, in: Simon Wiesenthal Center Annual 2 (1985), 53–62, 58.
- 5) Vgl. Kniefacz, Karl Motesiczky. Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=13624 (9. 12. 2015).
- 6) Vgl. Christiane Rothländer, Karl Motesiczky 1904–1943. Eine biografische Rekonstruktion, Wien 2010, 7–8.
- 7) Vgl. Kniefacz, Karl Motesiczky. Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=13624 (9. 12. 2015).
- 8) Vgl. Kniefacz, Karl Motesiczky. Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=13624 (9. 12. 2015).
- 9) Vgl.Christiane Rothländer, Karl Motesiczky 1904–1943. Eine biografische Rekonstruktion, Wien 2010, 10, 308–309, 328–330.
- 10) Vgl. DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Karl Wolfgang Franz Motesiczky, 2. 9. 2015).
- 11) Vgl. Christiane Rothländer, Karl Motesiczky 1904–1943. Eine biografische Rekonstruktion, Wien 2010, 339; Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938-1945, Graz-Wien-Köln 1997, 243.Selbige Auszeichnung wurde 1985 Christl Denner-Beran zuteil. Sie hatte 1942 der Wiednerin Edith Hahn eine falsche Identität verschafft, mit der sie untertauchen konnte.[fn] Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001; vorletzte Abbildung Buchmitte; Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte, Österreicher und Judenverfolgung 1938-1945, Graz-Wien-Köln 1997, 157–159.
- 12) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 86, AFB-Nr. 24038 (Maria Hahn).
- 13) Vgl. Kniefacz/Posch, Edith Hahn (verh. Hahn-Beer). Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=40859 (15. 7. 2015).
- 14) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 59-60
- 15) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 61-67.
- 16) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 76-77, 102-103.
- 17) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 127,
- 18) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 128, 135-157.
- 19) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001; 159-178.
- 20) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001.
- 21) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 250-284.
- 22) Vgl. Edit Hahn-Beer, Ich ging durchs Feuer und brannte nicht. Eine außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, Wien 2001, 8.