Die meisten Personen, die den Holocaust auf dem Gebiet des Dritten Reiches überlebten, verdankten dies einer Ehe mit einer nichtjüdischen Partnerin oder einem nichtjüdischen Partner. Solche Verbindungen waren seit Erlass des sogenannten „Blutschutzgesetzes“ von 1935 verboten, wurden aber nicht rückwirkend aufgelöst.1 „Gemischte“ Eheleute wurden unterschiedlich behandelt, abhängig davon, ob die Frau oder der Mann als jüdisch galt und ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen waren. War der Mann „Arier“, dazu keine Kinder vorhanden oder diese nicht im jüdischen Glauben erzogen worden, handelte es sich um eine „privilegierte Mischehe“. In diesem Fall musste die jüdische Frau keinen Judenstern tragen, konnte ihr Vermögen dem Mann überschreiben und dadurch vor „Arisierung“ retten. Die Eheleute waren vor allem auch nicht gezwungen, in „Sammelwohnungen“ umzuziehen.
War hingegen der Mann nach geltender Gesetzeslage Jude galt all das nicht. Die Lage der Kinder aus „Mischehen“ war in jedem Fall prekär. Auf Basis der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 galten sie als „Mischlinge“, entweder 1. Grades (wenn zwei Großelternteile jüdisch waren) oder 2. Grades (wenn nur ein Großvater bzw. Großmutter als jüdisch galt). Wer zwei jüdische Großeltern hatte und außerdem einer jüdischen Kultusgemeinde angehörte, wurde als „Geltungsjude“ eingestuft und als solcher den „Volljuden“ (also Menschen mit drei oder vier jüdischen Großeltern) gleichgestellt.2
Nach Kriegsbeginn verschlechtere sich die Situation auch für Menschen in geschützten Ehen deutlich. Wie für die gesamte jüdische Bevölkerung galt nun auch für sie ein nächtliches Ausgehverbot, sie durften keine Kinos, Museen, Cafés und sonstige Vergnügungsorte aufsuchen, mussten Rundfunkgeräte, optische Geräte, Fahrräder und Schreibmaschinen abliefern und durften keine Pelz- und Wollsachen mehr tragen. Besonders schwerwiegend war außerdem, dass ihnen meist die Lebensmittelrationen gekürzt wurden und sie zugleich ihre Krankenversicherung verloren. 3 Wie mit „Mischlingen“ und jüdischen Partnern in „Mischehen“ verfahren werden sollte war innerhalb des NS-Staates umstritten. Während insbesondere jene Dienststellen, die für die Durchführung des Holocaust verantwortlich waren, auf eine Einbeziehung in das Vernichtungsprogramm drängten, waren andere Stellen zurückhaltender.4 Das Ergebnis war zwar die vorläufige Ausnahme von Deportationen, jedoch vielfältige Diskriminierungen im Schul- und Berufsleben und vor allem permanente Unsicherheit.
In jedem Fall entfiel jeglicher Schutz, wenn eine „Misch“-Ehe geschieden wurde
oder der nichtjüdische Ehepartner starb und keine zu versorgenden Kinder vorhanden waren. In der Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass im Fall eines Sieges des Dritten Reiches sowohl „Mischlinge“ als auch Juden und Jüdinnen in geschützten Ehen ebenfalls systematisch ermordet worden wären.
Nachdem bereits ein Großteil der dortigen „Volljuden“ deportiert worden war, kam es nach 1942 in mehreren Reichsteilen zu Verhaftungswellen jüdischer „Mischehe“-PartnerInnen. Diese Festnahmen gingen meist auf Betreiben örtlicher Partei- oder Gestapostellen zurück, die Verhafteten wurden anschließend in
Vernichtungslager gebracht und ermordet. Flächendeckend wurde davor für die Dauer des Krieges jedoch abgesehen, weil man ansonsten Unruhen in der nichtjüdischen Bevölkerung befürchtete. Tatsächlich führte die Verhaftung von Männern mit nichtjüdischen Ehepartnerinnen im Februar 1943 in Berlin zu Straßenprotesten ihrer Ehefrauen. Diese sogenannten „Rosenstraße-Proteste“ sind eines der ganz wenigen Beispiele offenen Widerstandes gegen die NS-Judenverfolgung innerhalb des Deutschen Reiches.5
Zum Beispiel: Familie Elsner/Kollberg
Louise „Lily“ Kollberg wurde 1898 in eine wohlhabende Wiener Familie geboren. Ihr Vater Julius Kollberg (1851-1920) war in der k.u.k.-Monarchie Generalimporteur für Indigo gewesen. Bis zur Erfindung des synthetischen Indigo um die Jahrhundertwende war dies ein äußerst lukrativer Geschäftszweig. Später war Julius Kollberg Besitzer einer Gerbstofffabrik auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Seine Frau Rosa (1860-1946), Lilys Mutter, entstammte der prominenten Bankiersfamilie Fischhof, dessen Vater Julius Fischhof (1823-1887) ein bekannter Wiener Philanthrop und Kunstmäzen war.
Julius und Rosa Kollberg konvertierten zum Protestantismus und ließen ihre beiden Kinder, Lily und deren sechs Jahre älteren Bruder Eugen taufen. Die Familie lebte auf zwei Etagen in der Plößlgasse 6 zur Miete, besaß aber ein Zinshaus in der Wohllebengasse 17. Nachdem Julius Kollberg 1920 an einer Blutvergiftung gestorben war, wohnte Rosa mit ihren beiden Kindern weiterhin in der Plößlgasse und lebte von den Mieteinkünften aus der Wohllebengasse. Lily und Eugen entwickelten beide künstlerische Talente. Eugen wurde ein namhafter Regisseur und Schauspieler in Deutschland. Lily, die als Frau nicht an der Akademie der Bildenden Künste in Wien studieren konnte, besuchte anschließend an die Wiener Frauenakademie nach dem Ersten Weltkrieg die private Malschule Robin Christian Andersen. Dort traf sie Franz Elsner, Sohn eines katholischen Ottakringer Fleischhauers, der sich als ausgebildeter Lithograph nach dem Krieg ebenfalls der Malerei zugewandt hatte, angespornt vom Besuch eines Malkurses an der Volkshochschule.
Obwohl Elsner im Unterschied zu seiner späteren Frau Lily an der Akademie aufgenommen worden wäre, entschied auch er sich für die Malschule Andersen, die als offener und moderner als die Akademie galt und eine ganze Reihe prominenter AbsolventInnen hervorbrachte. Franz und Lily verliebten sich, beide Herkunftsfamilien hatten nichts gegen die Verbindung einzuwenden, das Paar heiratete und lebte in der oberen Etage der Plößlgasse 6, Lilys Mutter Rosa bewohnte die darunter liegende Wohnung. Im Jahr 1931 wurde ihr einziges Kind geboren: Michael. Dieer erinnerte sich später an ein weltoffenes, vor allem mit seiner Kunst beschäftigtes Elternhaus. Franz und Lily reisten gerne und viel und verkehrten in einem großen Kreis von Freunden und Bekannten. Sie waren mit dem Leben, das sie führten zufrieden. Religion spielte kaum keine Rolle und daher fühlten sie sich auch lange vom Antisemitismus nicht unmittelbar betroffen, so Michael: „Wir haben bis zum „Anschluss“ gar nicht glauben können, dass das uns betreffen soll – wir waren doch keine Juden!“
Erste Schatten hatte das Kommende freilich schon 1937 vorausgeworfen: Eugen, der aufgrund seiner „jüdischen“ Herkunft in Deutschland endgültig keine Rollen mehr bekam, kehrte zurück nach Wien und lebte fortan ebenfalls bei seiner Mutter in der Plößlgasse 6.
Auch seine alte Freundschaft mit der Schauspielkollegin Emma Köstlin, geborene Sonnemann, die 1935 in zweiter Ehe die Nummer zwei des NS-Staates, Hermann Göring geheiratet hatte und bei ihrem Mann zugunsten von Eugen intervenierte, konnte ihm nicht helfen.
Von den beginnenden Ausschreitungen und Übergriffen nach dem „Anschluss“ im März 1938 war die Familie Elsner nicht betroffen. Dennoch war Lily – mutmaßlich auch durch die Berichte ihres Bruders über dessen Erlebnisse im Deutschen Reich – besorgt, während ihr achtjähriger Sohn im Stillen die HJ-Jungen mit ihren schneidigen Uniformen, den Ausflügen und Paraden beneidete. Rasch änderte sich aber auch für ihn das Bild grundlegend. Es begann damit, dass die nichtjüdische Haushälterin seiner Großmutter ihre Stellung aufgeben musste, da Jüdinnen und Juden keine Hausangestellten mehr beschäftigen durften. Ihr Haus in der Wohllebengasse 17 wurde „arisiert“, womit die Familie ihr einziges regelmäßiges Einkommen verlor. Noch 1938 wurden Großmutter und Onkel aus ihrer Wohnung in der Plößlgasse 6 geworfen und mussten in ein Kabinett in der Krummbaumgasse 1 im zweiten Bezirk umziehen. Lily, die mit Franz in einer „privilegierten Mischehe“ lebte, war selbst nicht direkt betroffen, aber auch die Familie Elsner empfand die Situation rasch als untragbar. Ein Versuch des mittlerweile zur Wehrmacht eingezogenen Franz mit seiner Familie in die USA auszuwandern, scheiterte 1939 jedoch, da die USA die Ausstellung von Visen für die Familie verweigerten.
Auf diese Weise war die Familie gezwungen in Wien zu bleiben und Michael durfte als „Mischling“ trotz bestandener Aufnahmeprüfung nicht das Akademische Gymnasium besuchen. Später wurde er auch vom Unterricht in der Hauptschule am Karlsplatz ausgeschlossen, die er stattdessen vorübergehend besuchte hatte. Seine Großmutter Rosa Kohlberg litt zunehmend unter Altersschwäche und Demenz. Sie wurde schließlich aus dem Kabinett in der Krummbaumgasse 1 ins Jüdische Spital in der Malzgasse 7 bzw. 16 im zweiten Bezirk verlegt. Anders als bei den allermeisten anderen PatientInnen war das ihr Glück: Als die Deportationen begannen, wurde sie als „nicht transportfähig“ zurückgestellt und lebte als bettlägerige Patientin bis zur Befreiung Wiens in der Seegasse.
Lilys Bruder Eugen wurde am 27. Mai 1942 gemeinsam mit 980 anderen Menschen nach Minsk deportiert. Als sie dort am 1. Juni eintrafen, wurden sie sofort nach Maly Trostinec weitertransportiert, wo man ihnen sämtliche Wertsachen abnahm, sie in ein nahe gelegenes Waldstück trieb und dort in Gruben erschoss.6
Als Wien 1943 in Reichweite der alliierten Bombergeschwader geriet, schickten Franz und Lily ihren Sohn Michael zu einem Bauern ins Waldviertel, wo er bis April 1945 blieb. In den letzten Kriegstagen schlug er sich auf eigene Faust mit dem Rad nach Wien durch, wo er seine Eltern wohlauf fand. Die Familie blieb nach dem Krieg in Wien.
Dieser Artikel basiert auf einem Zeitzeugeninterview mit Michael Elsner, dem Sohn von Lily Kollberg und Franz Elsner, geführt am 27. März 2017.
- 1) Vgl. Marianne Schnell, Überlebensstrategien von „Mischehe“-Paaren im Nationalsozialismus am Beispiel ausgewählter lebensgeschichtlicher Texte, Dipl. Arb., Wien 2013, bes. 25-35.
- 2) Vgl. Jeremy Noakes, The development of Nazi Policy towards the German-Jewish
„Mischlinge“ 1933-1945, in: Leo Baeck Institute Year Book, XXXIV/1989, 291-354. - 3) Vgl. Ursula Büttner, Die Not der Juden teilen. Christlich-jüdische Familien im Dritten Reich. Beispiel und Zeugnis des Schriftstellers Robert Brendel, Hamburg 1988, 48-49.
- 4) Vgl. Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, Hamburg 2002.
- 5) Vgl. Antonia Leugners (Hg.), Berlin: Rosenstraße 2-4. Protest in der NS-Diktatur. Neue Forschungen zum Frauenprotest in der Rosenstraße 1943, Annweiler 2005; Desgl. Wolf
Gruner, Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der
„Mischehen“ 1943, Frankfurt/Main 2005. - 6) Vgl. Dieter J. Hecht, Michaela Raggam-Blesch,Heidemarie Uhl, Der Aspangbahnhof –zentraler Deportationsort für Jüdinnen und Juden aus Wien und Österreich Historische Darstellung und Quellendokumentation, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2016, online unter http://www.gbstern.at/fileadmin/user_upload/GB0311/Downloads/
6_Historische_Darstellung_und_Quellendokumentation.pdf siehe außerdem den
Eintrag zur Person in der DÖW-Shoah-Opferdatenbank unter http://www.doew.at/
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