Wie viele Geschäfte mit jüdischen BesitzerInnen gab es 1938?

Beschmiertes Auslagenfenster eines Geschäfts in Wien, März 1938 (Foto: ÖNB/Hilscher, 1074287)

Es existiert kein Gesamtverzeichnis aller unter den Nationalsozialisten entzogenen Unternehmen. Aus den verschiedenen Schreiben und Auflistungen, die während der NS-Zeit von Behörden angefertigt wurden, lassen sich jedoch folgende Sachverhalte rekonstruieren: Reichskommissar Josef Bürckel gab Ende 1938 die Zahl von 50.000 bis 60.000 gewerblichen Betrieben mit jüdischen EigentümerInnen an. 1 Demgegenüber identifizierte die für „Arisierungen“ zuständige Behörde, die Vermögensverkehrsstelle (VVSt) 36.000 Betriebe mit jüdischen InhaberInnen. Am 14. August 1939 teilte Walter Rafelsberger, Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Heinrich Himmler mit, dass es vor dem „Anschluss“ in Österreich etwa 33.000 Unternehmen mit jüdischen InhaberInnen gegeben habe, wovon bereits in den Tagen des „Anschlusses“ 7.000 Firmen aufgelöst worden seien. Von den übrigen 26.000 Betrieben seien bis März 1939 5.000 „arisiert“ und 21.000 „liquidiert“ worden. 2

Um diese Zahlen überprüfen zu können, muss die Anwendung der Definitionen von Personen als Jüdinnen und Juden, „Mischlinge“ und in „Mischehe“ lebenden Personen berücksichtigt werden und es bedarf einer quantitativen Analyse der Aktenbestände der VVSt. Im vorliegenden Forschungsprojekt wurde der Bestand der Abteilung „Handel“ gesichtet und alle darin enthaltenen Betriebe aus dem vierten Bezirk erfasst. Die so gewonnenen Informationen können als eine Stichprobe gelten, jedoch nicht als Gesamtauswertung, die Aussagen zu sämtlichen Entziehungen auf der Wieden zuließe. 3

Im vierten Bezirk gab es während des NS-Regimes 85 Handelsgeschäfte von 91 jüdischen EigentümerInnen (ohne Filialbetriebe). Von den EigentümerInnen waren 31 Frauen und 53 Männer, im Fall von sieben Firmen liegen keine Angaben zu den rechtmäßigen InhaberInnen vor. 60 % der untersuchten Handelsbetriebe wurden „arisiert“, rund 20 % „liquidiert“, bei weiteren knapp 20 % geht aus den Akten nicht hervor, in welcher Form die Betriebe enteignet wurden bzw. was anschließend mit ihnen geschah. Geografisch konzentrierten sich 38 der fraglichen Betriebe auf die traditionellen Handelsstraßen im Bezirk, so befanden sich 21 in der Wiedner Hauptstraße und weitere 17 in der Favoritenstraße. Die restlichen Firmen waren über den gesamten Bezirk verteilt. Die meisten der enteigneten Geschäfte waren der Nahrungsmittel- und Genussbranche zuzurechnen (16 Betriebe), eine weitere wichtige Rolle spielte der Textil- und Lederwarenhandel (20 Betriebe).

Insgesamt „bewarben“ sich 250 Personen (77 Frauen, 173 Männer) sowie fünf Firmen darum, einen oder mehrere der Betriebe „arisieren“ zu dürfen. Die Vermögensverkehrsstelle erteilte 111 von ihnen einen Zuschlag (31 Frauen, 79 Männer, eine Firma). Nur 18 der „AriseurInnen“ hatten zuvor auf der Wieden gewohnt, bei etwa einem Fünftel von ihnen handelte es sich um (ehemalige) MitarbeiterInnen der zu „veräußernden“ Betriebe. Mehr als die Hälfte der „AriseurInnen“, 61 Personen, waren in derselben Branche tätig gewesen, in die der nun von ihnen „übernommene“ Betrieb fiel – es handelte sich demnach um KonkurrentInnen bzw. MitbewerberInnen. Für 82 Personen stellten die NSDAP oder eine ihrer Gliederungen politische Leumundszeugnisse aus; etwa ein Drittel, nämlich 39 der „AriseurInnen“, waren „ParteigenossInnen“ gewesen und davon hatten 31 der Partei als „Illegale“ bereits vor dem „Anschluss“ angehört. Über 51 weitere „AriseurInnen“ war aus NS-Sicht zumindest nichts politisch „Nachteiliges“ bekannt. 4

 

Jutta Fuchshuber

 

  1. 1) Vgl. ÖStA, AdR, ZNsR, RK Materie, 2160/00 Band III; Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Nürnberger Dokument PS 2237, Schreiben und Bericht Reichskommissar Bürckel an Ministerpräsident Gfm. Göring, geheim, 18. 11. 1938, zit. nach: ans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, 302.
  2. 2) Vgl. Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Diss., Wien 1940, 10.
  3. 3) Für einige Betriebe, die während der Phase der „wilden Arisierungen“ enteignet wurden, finden sich beispielsweise schriftliche Unterlagen in verschiedenen Beständen bzw. Abteilungen der VVSt. Zum Teil wurden aber auch erst gar keine Akten angelegt. Des Weiteren wurden während der NS-Regimes die zu enteignenden Betriebe je nach Schwerpunkt des Geschäftes den jeweiligen Abteilungen (die wiederum nach Wirtschaftszweigen gegliedert waren) zugeordnet. Es ist also anzunehmen, dass bei Unternehmen, deren Akten sich im Bestand „Handel“ befinden, der Fokus auf Verkauf von Waren lag, auch wenn etwa zusätzlich eine Reparaturwerkstätte angeschlossen war. Im Bestand der VVSt-„Statistik“ liegen jene Akten, die während der NS-Zeit systematisch erfasst wurden und nicht mehr in die jeweiligen Abteilungen retourniert wurden. Diese Akten wurden nicht ausgewertet und somit kann die folgende Auswertung auch für den Handel zwar repräsentative Aussagen treffen, aber letztlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
  4. 4) Die Auswertung basiert auf der Sichtung des Bestands der VVSt, Handel. Vgl. ÖStA, AdR, EuRANG, VVSt, Handel, Kt. 244–330.

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