Unter den insgesamt etwa 65.000 österreichischen Jüdinnen und Juden, die vom NS-Regime ermordet wurden, hatten vermutlich etwa zweitausend im vierten Bezirk gelebt, das entsprach ziemlich genau einem Drittel derjenigen Personen, die nach NS-Kriterien als „jüdisch“ galten. Mehr als die Hälfte der Wiedner Opfer, rund 1.100 Personen, konnten namentlich identifiziert werden.
Von den deportierten und ermordeten WiednerInnen waren mehr als 260 Personen zunächst ins Ghetto Theresienstadt gekommen, von wo aus etwa die Hälfte nach und nach weiter in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert wurde. Die Spur fast aller übrigen Menschen verliert sich in Theresienstadt.
Weitertransporte von Wiedner NS-Opfern (Angaben in absoluten Zahlen).
Weitere 142 WiednerInnen wurden ab Mai 1942 von Wien nach Maly Trostinec bei Minsk deportiert. Hier wurden die Häftlinge – mit Ausnahme weniger, die Zwangsarbeit leisten mussten – bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Dies geschah vorwiegend mittels Gaswägen, aber auch durch Erschießen.1
137 WiednerInnen wurden im Herbst 1941 ins Ghetto Litzmannstadt deportiert. Im dortigen Lager grassierten infolge der beengten Verhältnisse, der allgemeinen Unterernährung und fehlender medizinischer Versorgung verschiedene Seuchen. Hinzu kam der konstante Terror der SS – willkürliche Erschießungen von Männern, Frauen und Kindern standen an der Tagesordnung. Der Judenrat, die von den Deutschen eingesetzte jüdische „Ghettoselbstverwaltung“, verfolgte in Litzmannstadt die Strategie einer Produktivierung des Ghettos. Der Hintergedanke bestand darin, dass die Deutschen zumindest jene Menschen nicht ermorden würden, aus deren Arbeit sie unmittelbare Vorteile zogen.2
Um sie zu retten, wurde der SS ein Teil der BewohnerInnen preisgegeben, vor allem diejenigen, die nicht arbeiten konnten: kleine Kinder, Alte und Kranke.3 Tatsächlich schien sich die Hoffnung zu erfüllen, wenigstens einen Teil der Menschen im Ghetto vor der Ermordung zu bewahren. Obwohl es mehrfach zu Deportationen aus dem Ghetto kam, blieb dieses bis zum Sommer 1944 bestehen. Dann allerdings wurden diejenigen, die bis dahin am Leben geblieben waren, zum Großteil nach Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurden. Die Übrigen wurden auf verschiedene weiter westlich gelegene Lager aufgeteilt. Als die Rote Armee das Ghetto Litzmannstadt im Jänner 1945 befreite, fand sie von den einstmals 160.000 Menschen des Ghettos nur noch rund 1.000 vor.
Neben den vorgenannten Orten wurden BewohnerInnen des vierten Bezirkes im Frühjahr 1941 in die Ghettos Opole, Kielce und Modliborzyce deportiert. Ab Oktober 1941 wurden WiednerInnen nach Litzmannstadt, Riga, Minsk und Kowno sowie ab April 1942 in den Distrikt Lublin (Wlodawa, Izbica) abtransportiert. Zumindest 40 Menschen wurden außerdem direkt in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gebracht. Von denjenigen, die im Zeitraum 1941/42 deportiert wurden, sind keine Überlebenden bekannt.
Im Falle der meisten Ermordeten können das genaue Todesdatum und der Todesort nicht rekonstruiert werden. Jene Menschen, die im vierten Bezirk gewohnt hatten und deren Todesort auch bekannt ist, starben mehrheitlich in Maly Trostinec und Theresienstadt.
MATTHIAS KAMLEITNER
- 1) Vgl. Florian Freund/Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767–794, 776.
- 2) Vgl. Florian Freund/Bertrand Perz/Karl Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Litzmannstadt (Lódź), in: Hanno Loewy/Gerhard Schoenberner (Hg.), „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lódź 1940-1944, Wien 1990, 17–31, 23–24.
- 3) Vgl. Dan Diner, Jenseits des Vorstellbaren – der „Judenrat“ als Situation, in: in: Hanno Loewy/Gerhard Schoenberner (Hg.), „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lódź 1940-1944, Wien 1990, 32–39, 36.