Am 17. 3. 1848, vier Tage nach den ersten Wiener Straßenkämpfen und der überstürzten Flucht des Staatskanzlers Klemens Metternich, trug man in der Residenzstadt die Toten der Revolution zu Grabe. Die Wiener Zeitung berichtete: „ewig unvergesslich wird diese Leichenfeier jedem bleiben, der sie mitangesehen hat. […] Ein herrlicher, großartiger, tiefrührender Anblick.“ 1 Auch die Deutsche Allgemeine Zeitung vermeldete, „dass die Residenz einen solchen Trauerzug, welcher zwei Stunden dauerte, wohl noch nie gesehen hat.“ 2 Das Besondere an der Veranstaltung waren jedoch nicht nur die Zehntausenden Trauernden, die den Opfern des kaiserlichen Schießbefehls das letzte Geleit gaben, sondern das Zeremoniell der Leichenfeier und Bestattung: Die Getöteten wurden in einem gemeinsamen Grab auf dem Schmelzer Friedhof beigesetzt – obwohl sie unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehörten. Mehr noch: Die Einsegnung wurde von jeweils einem katholischen, evangelischen und jüdischen Geistlichen gemeinsam vorgenommen. Die Revolution schien damit ihr größtes Versprechen einzulösen: die Gleichheit aller Bürger. Es war der Beginn einer kaum 70-jährigen Blüte jüdischen Lebens in Wien, der die Nazis und ihre HelferInnen ab 1938 ein barbarisches Ende bereiteten.
Eine jüdische Bevölkerung gab es in Wien nachweislich seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert – und damit mindestens ebenso lange wie den ältesten Vorläufer des Stephansdoms. Ein urkundlich verbrieftes Recht zum Aufenthalt und zur Ausübung der jüdischen Religion konnte erstmals für das Jahr 1238 nachgewiesen werden. Das alte Wiener Judenviertel befand sich rund um den heutigen Judenplatz und beinhaltete neben einer Synagoge – an die noch heute Straßenbezeichnungen wie der Schulhof erinnert („Schul“ = „Synagoge“) – auch ein Bad und eine koschere Fleischerei.3
Während sich das Zusammenleben von jüdischer und christlicher Bevölkerung in den folgenden Jahrzehnten weitgehend friedlich gestaltete, wurden im 14. Jahrhundert besorgniserregende Berichte aus Niederösterreich bekannt. In Pulkau, Retz, Horn, Eggenburg und Klosterneuburg hatten mehrfach Pogrome stattgefunden, nachdem Juden beschuldigt worden waren, Hostien geschändet und Gott gelästert zu haben. Tatsächlich waren diese gewaltsamen Ausschreitungen fast immer auch mit der Plünderung jüdischen Besitzes verbunden und folgten somit zumindest teilweise auch wirtschaftlichen Interessen.4 Die in Wien lebende jüdische Minderheit verfolgte die Entwicklung mit Sorge, war von ihr selbst aber zunächst nicht betroffen. In der Residenzstadt unterblieben Judenverfolgungen, weil sie den geschäftlichen Interessen der Herzöge zuwiderliefen – wie sich zeigen sollte, allerdings nur vorerst.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts begann der notorisch klamme Herzog Albrecht V. zunächst damit, seinen jüdischen UntertanInnen Geld in Form von Sondersteuern und -abgaben abzunötigen. Im Jahr 1420 befahl er dann die Vertreibung der mittellosen Jüdinnen und Juden. Deren wohlhabendere GlaubensgenossInnen wurden eingekerkert und gefoltert, um ihnen ihren Besitz abzupressen, während man ihre Kinder unter Zwang taufte – eine Praxis, die der Papst schließlich unterband. All jene, die die Verließe und „peinlichen Befragungen“ (Verhöre unter Folter) überlebt und ihrem Leben nicht selbst ein Ende gesetzt hatten, wurden im März 1421 in Erdberg auf herzogliches Geheiß verbrannt. 5
Als Vorwand für die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung seiner jüdischen UntertanInnen berief sich auch Albrecht V. auf Anschuldigungen, wie sie zuvor schon in Niederösterreich erhoben worden waren. Abermals war von Hostienschändung die Rede, die sich diesmal angeblich in Enns ereignet haben sollte. Dieser wie auch die anderen daraufhin erhobenen Vorwürfe entstammten einer argumentativen Tradition, mit der sich das Christentum als ursprünglich jüdische Sekte seit der Spätantike vom Judentum abzugrenzen versuchte. 6 Tatsächlich nutzte auch der Herzog diese Vorwände gezielt, um das Eigentum der vergleichsweise wohlhabenden jüdischen Gemeinden einzuziehen. 7
Nach der Auslöschung der jüdischen Gemeinde galt für Wien – wie auch für den Rest des Herzogtums Österreich – ein Aufenthalts- und Niederlassungsverbot für Menschen jüdischen Glaubens. Dieses wurde allerdings nur in Teilen durchgesetzt und mit Sondergenehmigungen umgangen, wenn sich die Obrigkeit Vorteile davon versprach. Diese Politik der Ausnahmeregelungen machte die Betroffenen noch stärker vom fürstlichen Wohlwollen abhängig und somit leichter erpressbar. Erst 1624 wurde das Ansiedlungsverbot vorübergehend aufgehoben und ein Teil des Unteren Werd (jener Gruppe von Donauinseln, die später das Zentrum des zweiten Bezirks bildete) den Juden als Ghetto zugewiesen.8 In Frieden lebte die kleine jüdische Gemeinde Wiens allerdings nur kurz, Fälle wie jener Ferdinand Engelbergers ließen keinen Zweifel aufkommen, dass seitens der christlichen Nachbarschaft auch weiterhin Gefahr drohte.
Ferdinand Franz Engelberger, ein konvertierter Jude, wurde 1642 der Mitwisserschaft an einem Diebstahl beschuldigt. Offensichtlich aufgrund seiner jüdischen Herkunft unterstellte man ihm außerdem „magische Praktiken“. 9. Nach seiner darauffolgenden Verurteilung zum Tode behauptete ein Jesuit, Engelberg habe seinen Übertritt zum Christentum widerrufen und eine Hostie geschändet. Er wurde daraufhin auf den vier Hauptplätzen Wiens mit glühenden Zangen gerissen, anschließend wurden ihm vom Halse aus vier Riemen aus dem Leib geschnitten und abgerissen, ihm wurde die Zunge herausgeschnitten und die rechte Hand abgeschlagen. Zum Schluss hängte man ihn kopfüber an den Galgen und briet ihn bei einem kleinen Schmauchfeuer lebendig. 10 Selbst nach damaligen Maßstäben war das eine grauenhafte Strafe, die Christen in dieser Form kaum zu gewärtigen hatten.
Aufgestachelt von seinen kirchlichen Beratern veranlasste Kaiser Leopold I. 1669/70 eine neuerliche Vertreibung aller jüdischen Untertanen unter der Enns. Eine Folge dieser zweiten Verbannung war die Entstehung von sieben prosperierenden jüdischen Gemeinden im heutigen Burgenland, wo Graf Paul I. Esterházy den 3.000 Flüchtlingen aus Wien Asyl gewährte.11.
Zwischen 1670 und 1867 blieb ein Niederlassungsverbot für Juden und Jüdinnen in Wien bestehen, das besonders Karl VI. und seine Tochter Maria Theresia scharf handhabten. Toleriert wurden lediglich einige wenige privilegierte jüdische Familien, deren Duldung im wirtschaftlichen Interesse des Hofes lag. Ausgenommen war außerdem auch eine kleine Gemeinde sephardischer Juden und Jüdinnen, die als UntertanInnen des Sultans Ahmed III. durch den Friedensvertrag von Passarowitz 1718 von Kaiser Karl VI. das Recht erhalten hatten, Handelsniederlassungen in den habsburgischen Ländern zu errichten und dort auch ihre Religion frei auszuüben. Alle anderen Jüdinnen und Juden durften sich lediglich kurzfristig in der Residenzstadt aufhalten und mussten dafür eine Sondersteuer entrichten, die sogenannte Bollettentaxe. 12 Die rigide Wiener Regelung war zwar immer noch geradezu liberal, verglichen mit den grausamen Judenvertreibungen, die Maria Theresia zwischen 1744 und 1748 in Böhmen und Mähren anordnete,13 auch in der Residenzstadt ließ die Monarchin aber kaum Gelegenheiten aus, die jüdische Bevölkerung mit vielfältigsten Sanktionen zu gängeln.14
Die Reformen unter Joseph II. verbesserten die Situation der jüdischen Bevölkerung zwar merklich, auch sie blieben aber weit von einer Gleichberechtigung entfernt. Das Toleranzpatent von 1782, das für Wien und Niederösterreich galt, öffnete die Ghettos, beseitigte die Kennzeichnungspflicht (das gelbe Band, das Juden und Jüdinnen bis dahin an ihrer Kleidung anbringen mussten) und ermöglichte jüdischen Kindern den Besuch regulärer Schulen. Doch mussten jüdische UntertanInnen weiterhin Sondersteuern bezahlen und die Bildung jüdischer Gemeinden blieb – im Unterschied zu protestantischen – ausdrücklich untersagt.
Darüber hinaus galt eine Vielzahl von anderen diskriminierenden Regelungen: Juden waren nach wie vor von bestimmten Berufen ausgeschlossen und durften weder Bauern, Gymnasiallehrer, Richter, Beamte, noch höhere Offiziere werden oder sich als Handwerksmeister selbstständig machen. Nur in Ausnahmefällen konnten sie Grundstücke erwerben (womit ihnen auch die Landwirtschaft praktisch versperrt war); Jüdische ZeugInnen waren vor Gericht ChristInnen nicht gleichgestellt, Juden und Jüdinnen unterlagen Ehebeschränkungen (womit die Zahl jüdischer Familien bewusst gering gehalten werden sollte), und bedurften zum Besuch höherer und mittlerer Schulen eigener behördlicher Genehmigungen; Jüdische Volksschulen unterstanden ihrerseits katholischer Aufsicht. Auch war Juden und Jüdinnen der Handel mit bestimmten Gütern – etwa Salpeter – untersagt. Da außerdem schon die „Verleitung zum Abfall vom Christentum“ und die „Ausstreuung einer den christlichen Religion widersprechenden Irrlehre“ unter Strafe standen, war breiter Raum für willkürliche Verfolgungsmaßnahmen gegeben, schließlich war es eine willkürliche Entscheidung, was genau als „Ausstreuung“ zu gelten hatte – im Extremfall konnte das schon die sichtbare Zugehörigkeit zum Judentum sein. 15
Die öffentliche Ausübung ihrer Religion war der jüdischen Bevölkerung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ohnehin verboten.16
Die Diskriminierung reichte bis ins Fürsorgewesen, so wurden jüdische „Findelkinder“ – meist keine Findelkinder im herkömmlichen Sinne, sondern Kinder aus armen Familien, die sie nicht ausreichend ernähren konnten – grundsätzlich getauft und katholisch erzogen und der Kontakt mit ihren Herkunftsfamilien abgebrochen. 17
- 1) Wiener Zeitung, 19. 3. 1848, 2.
- 2) Deutsche Allgemeine Zeitung, 22. 3. 1848, 9.
- 3) Vgl. Klaus Lohrmann, Vorgeschichte. Juden in Österreich vor 1867, in: Gerhard Botz/ Ivar Oxaal/Michael Pollak/Nina Scholz (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 2002, 35–64; Kurt Schubert, Die Geschichte des österreichischen Judentums, Wien–Köln–Weimar 2008, 19–29.
- 4) Kurt Schubert, Die Geschichte des österreichischen Judentums, Wien–Köln–Weimar 2008, 29ff.
- 5) Vgl. Jochen A. Fühner, Kaiser Maximilian I. und die Juden in den österreichischen Erblanden, Herne 2007, bes. 43–60.
- 6) Vgl. Wolfgang Wirth, „…von jener schimpflichen Gemeinschaft uns zu trennen.“ Judenfeindschaft von der frühen Kirche bis zu den Kreuzzügen, in: Günther B. Ginzel (Hg.), Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Bielefeld 1991, 53–70. Siehe im selben Band auch den Beitrag von Willhead P. Eckert, Antisemitismus im Mittelalter. Angst – Verteufelung – Habgier. „Das Gift, das die Juden tötete“, 71–99.
- 7) Vgl. Eveline Brugger, Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung – Juden in Österreich im Mittelalter, in: dies./ Herwig Wolfram (Hg.), Geschichte der Juden in Österreich (Österreichische Geschichte), Wien 2013, 123–228, bes. 221ff.
- 8) Barbara Staudinger, Die Zeit der Landjuden und der Wiener Judenstadt 1496–1670/71, in: Brugger/Wolfram, Geschichte, 229–338. Siehe auch Ludwig Bato, Die Juden im Alten Wien, Wien 1928, 12f.
- 9) Barbara Staudinger, Auch ein Christ kann ein Jude sein. Zur jüdischen Konnotation des „Geheimnisses“ in der Frühen Neuzeit, in: Institut für jüdische Geschichte Österreichs (Hg.), Juden in Mitteleuropa/2012, 2-8:3
- 10) Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688, Frankfurt/Main 1729, 1069
- 11) Die sogenannten Siebengemeinden umfassten Kittsee, Deutschkreutz, Kobersdorf, Lackenbach, Eisenstadt, Mattersdorf und Frauenkirchen.
- 12) Ludwig Bato, Die Juden im Alten Wien, Wien 1928, 122-123.
- 13) vgl. Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Wien–Köln–Weimar 2014, bes. 23-25.
- 14) Max Grunwald, Geschichte der Wiener Juden bis 1914, Wien 1926, 25f.
- 15) Zur josephinischen Zäsur siehe Burger, Heimatrecht, 26ff.; Adolf Gaisbauer, Das antijüdische Potential der Aufklärung und des Josephinismus, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 1 (1996), 163–182.
- 16) Vgl. Ruth Heidrich-Blaha, Joseph Kornhäusels Synagoge in Wien – Architektur als Zeichen, in: Israelitische Kultusgemeinde (Hg.), Der Wiener Stadttempel. Die Wiener Juden, Wien 1888, 53-63, 56.
- 17) Vgl. Stefan Schima, Die Revolution von 1848 und die Rechtsstellung der Juden, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 118 (2010), 415–449.